Europaparlament verurteilt Putins „teuflischen Plan“
Über 20 000 ukrainische Kinder sind von Russland entführt worden, um sie zu „russifizieren“. Möglicherweise liegt ihre Anzahl bereits in den Hunderttausenden.
sitzt an diesem Mittwoch zwar nur auf der Besuchertribüne des Europaparlamentes in Straßburg, aber sie hat die Sympathie aller Redner. Valeria. Sie ist mit drei anderen jungen Ukrainern nach Frankreich gereist, weil sie Zeugin der Anklage ist. Sie kann berichten, wie es ist, als ukrainisches Kind aus den besetzten Gebieten deportiert zu werden. Sie gehört zu den 400 jungen Ukrainerinnen und Ukrainern, denen die Rückkehr in die Heimat gelungen ist. Über 20 000 andere haben es noch nicht geschafft. Um ihr Schicksal sorgen sich in Straßburg die drei EU-Gesetzgeber: Rat, Kommission und Parlament senden ein eindeutiges Signal an Russlands Präsidenten Wladimir Putin und dessen „teuflischen Plan“, der
Ukraine durch die Entführung und Umerziehung ihrer Kinder Identität und Zukunft zu nehmen.
Das Signal wirkt umso stärker, als sich – anders als bei anderen Debatten über den Krieg gegen die Ukraine – alle Redner hinter die Forderung stellen, die Deportation sofort zu beenden, die Kinder zurückzubringen und die Entführer zu bestrafen. Eine Fortsetzung dieser Deportationen dürfe „unter keinen Umständen zugelassen werden“, befindet selbst Andrea Bocskor von der ansonsten mit viel Verständnis für Putin ausgestatteten Fidesz-Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán.
Ihre Einschätzung gehört zu den mildesten Kommentaren. Die litauische Christdemokratin Rasa Jukneviciene erinnert daran, dass sie unter sowjetischer Okkupation aufgewachsen sei und deshalb genau wisse, „was Russifizierung bedeutet“. Und Jadwiga Wisniewska von der rechtspopulistischen polnischen PiS beschreibt den „systematischen Charakter“, mit dem Russland vorgehe, indem alle Bande der Kinder mit ihrer ukrainischen Nation zerstört, sie über den Krieg belogen und zur illegalen Adoption freigegeben würden.
Historische Parallelen zeigt der estnische Rechtspopulist Jaak Madison auf. Vor 75 Jahren habe die Sowjetunion hunderttausend baltische Männer, Frauen und Kinder zwangsdeportiert, viele seien gestorben. Und schon damals habe die Propaganda gelogen. So wie es Russland jetzt mit der Behauptung tue, es gehe darum, die Kinder aus den Kriegsgebieten zu holen, um sie zu retten.
Was dieses angebliche „Retten“tatsächlich bedeutet, macht die Grünen-UkraineExpertin Viola von Cramon an drei Beispielen deutlich. Nach ihrer Darstellung ist da Ilja, neun, dessen Mutter vor seinen Augen von einer russischen Granate zerfetzt wird, selbst schwere Verletzungen erleidet, ohne Betäubung operiert und dann gezwungen wird, Russland zu loben, sich von der Ukraine loszusagen. Da ist Sascha, elf, der russische Soldaten anfleht, ihn nicht seiner Mutter wegzunehmen – vergeblich. Der in ein russisches Lager gebracht wird, um seine ukrainische Identität auszulöschen. Und da ist Kira, 14, die sich in unterirdischen Bunkern versteckt, von russischen Soldaten gefangen genommen und gezwungen wird, in einer russischen Familie zu leben. Die drei hätten noch Glück gehabt, meint die Grünen-Europaabgeordnete. Denn ihre Schicksale seien bekannt geworden. Die der meisten anderen jener über 20 000 entführten Kinder dagegen nicht.
Doch was kann die EU erreichen? Für den Ministerrat und die belgische Ratspräsidentschaft berichtet Außenministerin Hadja Lahbib vom letzten Treffen der EU-Justizminister, bei denen die Runde zusammen mit dem ukrainischen Generalstaatsanwalt Vorkehrungen für eine Bestrafung der an den Deportationen beteiligten russischen Personen besprochen hätten. Sechs Mitgliedsstaaten hätten Experten in ein Ermittlungsteam entsandt und beteiligten sich am Aufbau einer Datenbank.
Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Dubravka Suica, schildert die EU-Beteiligung an Gremien und Initiativen, die international und in der Ukraine entstanden sind, um die ukrainischen Kinder aus Russland nach Hause zu holen, und begrüßt es namens der EU, dass die russische Armee von den Vereinten Nationen auf eine Liste von Organisationen gesetzt wurde, die schwere Vergehen gegen Kinder in bewaffneten Konflikten begehen.