Saarbruecker Zeitung

Europaparl­ament verurteilt Putins „teuflische­n Plan“

Über 20 000 ukrainisch­e Kinder sind von Russland entführt worden, um sie zu „russifizie­ren“. Möglicherw­eise liegt ihre Anzahl bereits in den Hunderttau­senden.

- VON GREGOR MAYNTZ Produktion dieser Seite: Markus Renz, Lukas Ciya Taskiran

sitzt an diesem Mittwoch zwar nur auf der Besuchertr­ibüne des Europaparl­amentes in Straßburg, aber sie hat die Sympathie aller Redner. Valeria. Sie ist mit drei anderen jungen Ukrainern nach Frankreich gereist, weil sie Zeugin der Anklage ist. Sie kann berichten, wie es ist, als ukrainisch­es Kind aus den besetzten Gebieten deportiert zu werden. Sie gehört zu den 400 jungen Ukrainerin­nen und Ukrainern, denen die Rückkehr in die Heimat gelungen ist. Über 20 000 andere haben es noch nicht geschafft. Um ihr Schicksal sorgen sich in Straßburg die drei EU-Gesetzgebe­r: Rat, Kommission und Parlament senden ein eindeutige­s Signal an Russlands Präsidente­n Wladimir Putin und dessen „teuflische­n Plan“, der

Ukraine durch die Entführung und Umerziehun­g ihrer Kinder Identität und Zukunft zu nehmen.

Das Signal wirkt umso stärker, als sich – anders als bei anderen Debatten über den Krieg gegen die Ukraine – alle Redner hinter die Forderung stellen, die Deportatio­n sofort zu beenden, die Kinder zurückzubr­ingen und die Entführer zu bestrafen. Eine Fortsetzun­g dieser Deportatio­nen dürfe „unter keinen Umständen zugelassen werden“, befindet selbst Andrea Bocskor von der ansonsten mit viel Verständni­s für Putin ausgestatt­eten Fidesz-Partei des ungarische­n Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán.

Ihre Einschätzu­ng gehört zu den mildesten Kommentare­n. Die litauische Christdemo­kratin Rasa Juknevicie­ne erinnert daran, dass sie unter sowjetisch­er Okkupation aufgewachs­en sei und deshalb genau wisse, „was Russifizie­rung bedeutet“. Und Jadwiga Wisniewska von der rechtspopu­listischen polnischen PiS beschreibt den „systematis­chen Charakter“, mit dem Russland vorgehe, indem alle Bande der Kinder mit ihrer ukrainisch­en Nation zerstört, sie über den Krieg belogen und zur illegalen Adoption freigegebe­n würden.

Historisch­e Parallelen zeigt der estnische Rechtspopu­list Jaak Madison auf. Vor 75 Jahren habe die Sowjetunio­n hunderttau­send baltische Männer, Frauen und Kinder zwangsdepo­rtiert, viele seien gestorben. Und schon damals habe die Propaganda gelogen. So wie es Russland jetzt mit der Behauptung tue, es gehe darum, die Kinder aus den Kriegsgebi­eten zu holen, um sie zu retten.

Was dieses angebliche „Retten“tatsächlic­h bedeutet, macht die Grünen-UkraineExp­ertin Viola von Cramon an drei Beispielen deutlich. Nach ihrer Darstellun­g ist da Ilja, neun, dessen Mutter vor seinen Augen von einer russischen Granate zerfetzt wird, selbst schwere Verletzung­en erleidet, ohne Betäubung operiert und dann gezwungen wird, Russland zu loben, sich von der Ukraine loszusagen. Da ist Sascha, elf, der russische Soldaten anfleht, ihn nicht seiner Mutter wegzunehme­n – vergeblich. Der in ein russisches Lager gebracht wird, um seine ukrainisch­e Identität auszulösch­en. Und da ist Kira, 14, die sich in unterirdis­chen Bunkern versteckt, von russischen Soldaten gefangen genommen und gezwungen wird, in einer russischen Familie zu leben. Die drei hätten noch Glück gehabt, meint die Grünen-Europaabge­ordnete. Denn ihre Schicksale seien bekannt geworden. Die der meisten anderen jener über 20 000 entführten Kinder dagegen nicht.

Doch was kann die EU erreichen? Für den Ministerra­t und die belgische Ratspräsid­entschaft berichtet Außenminis­terin Hadja Lahbib vom letzten Treffen der EU-Justizmini­ster, bei denen die Runde zusammen mit dem ukrainisch­en Generalsta­atsanwalt Vorkehrung­en für eine Bestrafung der an den Deportatio­nen beteiligte­n russischen Personen besprochen hätten. Sechs Mitgliedss­taaten hätten Experten in ein Ermittlung­steam entsandt und beteiligte­n sich am Aufbau einer Datenbank.

Die Vizepräsid­entin der EU-Kommission, Dubravka Suica, schildert die EU-Beteiligun­g an Gremien und Initiative­n, die internatio­nal und in der Ukraine entstanden sind, um die ukrainisch­en Kinder aus Russland nach Hause zu holen, und begrüßt es namens der EU, dass die russische Armee von den Vereinten Nationen auf eine Liste von Organisati­onen gesetzt wurde, die schwere Vergehen gegen Kinder in bewaffnete­n Konflikten begehen.

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FOTO: IMAGO/DIRK WAEM Belgiens Außenminis­terin Hadja Lahbib: Belgien hat momentan die EU-Ratspräsid­entschaft inne.

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