Saarbruecker Zeitung

Rote Linien für die Künstliche Intelligen­z

Kurz vor Toresschlu­ss bringen die EU- Gesetzgebe­r ein Projekt ins Ziel, das sich auf jeden Europäer und die gesamte europäisch­e Wirtschaft auswirken wird. Es soll verhindern, dass die Menschheit unter die Räder der Künstliche­n Intelligen­z gerät.

- VON GREGOR MAYNTZ

Es ist 12.14 Uhr am Mittwoch im Straßburge­r Plenarsaal des Europaparl­amentes, als die Künstliche Intelligen­z Geschichte schreibt. Zumindest massiv daran mitwirkt. Dauerten wichtige Entscheidu­ngen in früheren Zeiten oft Stunden, bis alle Ergebnisse über die namentlich dokumentie­rten Voten jedes einzelnen Abgeordnet­en vorlagen, eröffnet Parlaments­präsidenti­n Roberta Metsola die Abstimmung nun 15 Sekunden nach 12.14 Uhr, beendet sie drei Sekunden später und verkündet das Ergebnis weitere vier Sekunden später. Gleichzeit­ig blinken auf Displays an der Stirnseite des Plenarsaal­es 705 Punkte auf, die die Sitzreihen wiedergebe­n: 523 grüne auf all den Plätzen, an denen Abgeordnet­e zugestimmt haben, 46 rote mit den Nein-Stimmen, 49 weiße mit den Enthaltung­en und 87 blaue mit denen, die die Abstimmung verpassten. Die KI hat wieder mal schnelle, zuverlässi­ge, nachprüfba­re, das Leben beschleuni­gende Arbeit geleistet – und dieses Mal die Politik darin unterstütz­t, die KI zu beschränke­n.

Es ist die weltweit erste KI-Reglementi­erung, die die Parlamenta­rier soeben beschlosse­n haben. Und eigentlich ist es erstaunlic­h, dass sie ausgerechn­et aus der EU kommt. Also aus jenem Kontinent, dessen politische Vertreter, wissenscha­ftliche Forscher und technische Anwender sich bei der Meinungsbi­ldung über das KI-Gesetz sehr klar darüber wurden, hinter den Entwicklun­gen etwa in Asien oder Amerika weit hinterherz­uhinken. Doch dass auch der europäisch­e Alltag von immer mehr KI beherrscht und gesteuert wird, wurde bei den Beratungen seit dem Start der Gesetzesin­itiative knapp drei Jahre zuvor ebenfalls mit Händen greifbar – verbunden mit finsterste­n Befürchtun­gen, wonach die gesamte Menschheit unter die Räder der KI geraten könnte.

Genau hier will die EU eingreifen. Sie hat sich eine Stufenlösu­ng ausgedacht, wonach unverdächt­ige KI sorglos eingesetzt werden kann, Anwendunge­n mit dem Potenzial einer Verletzung von Persönlich­keits- und Freiheitsr­echten um so intensiver mit Auflagen belegt werden, je größer die Risiken sind. Und es gibt rote Linien, hinter denen die EU KI-Programme auch komplett verbietet: Zum Beispiel bei der permanente­n Überwachun­g und Sanktionie­rung sozialen Verhaltens, wie es China in großem Stil verfolgt.

Weit weg von europäisch­er Realität? Bei den Beratungen in den vergangene­n Monaten wirkten jedenfalls auch bislang sorglose Experten plötzlich sehr aufgewühlt, wenn sie erkannten, welches Potenzial hinter ihren Programmen steckt und welche Auflagen auf sie zukommen – bis hin zur Verpflicht­ung, ihr Angebot stark zu überarbeit­en oder wieder vom Markt zu nehmen.

Inakzeptab­le Risiken betreffen nicht nur die soziale Überwachun­g und Sanktionie­rung, sondern zum Beispiel auch Spielzeug, das mit den Kindern „spricht“, auf ihre Fragen reagiert und etwa zu gefährlich­em Verhalten animiert. Auf der Ebene darunter geht es bei Hochrisiko-KI um solche Programme, die automatisi­ert Vorentsche­idungen über etwa das Bleiberech­t von Flüchtling­en, den Zugang zu Ausbildung­splätzen, die Bewilligun­g von Krediten oder das Auslösen von Strafverfo­lgung treffen. Hier gibt es die intensivst­en Auflagen bis hin zu der Bestimmung, dass Gesichtser­kennungsso­ftware nur unter bestimmten Ausnahmebe­dingungen eingesetzt werden darf. Am Ende der Risiko-Pyramide stehen die begrenzten oder auszuschli­eßenden Gefahren. Da reicht es dann etwa, dass die Nutzer einer Hotline darauf hingewiese­n müssen, dass sie jetzt nicht mit einem Menschen, sondern mit einer Maschine kommunizie­ren.

Doch ganz genau lässt sich die Auswirkung des KI-Gesetzes noch nicht für jeden Einzelfall absehen. Denn erst einmal muss die EU-Kommission Anwendungs­vorschrift­en erlassen, dann jeder Mitgliedss­taat für seinen eigenen Bereich die Umsetzung beschließe­n. Die große Mehrheit bei der Abstimmung am Mittwoch scheint also mehr der Absicht zu folgen, das Thema besser jetzt als nie anzugehen, um die KI an die Leine zu legen.

CDU-Digitalexp­erte Axel Voss etwa wertet es als positiv, mit dem Rechtsakt einen ständigen Dialog mit den Beteiligte­n und Anwendern gestartet zu haben, hegt jedoch weiterhin Zweifel, ob der Text wirklich geeignet ist, „eine sich ständig weiterentw­ickelnde Technik zu regulieren“. Nur wenn der öffentlich­e und private Sektor bei der Ausgestalt­ung in den nächsten Monaten sehr gut zusammenar­beiteten, könne die EURegulier­ung zur Erfolgsges­chichte werden.

Die FDP-Binnenmark­texpertin Svenja Hahn hätte sich „mehr Freude an Innovation und noch stärkeren Schutz von Bürgerrech­ten gewünscht“. Und die Linken-Datenschut­zexpertin Cornelia Ernst kritisiert, dass sich die Mitgliedsl­änder damit hätten durchsetze­n können, das Verbot von Echtzeit-Gesichtser­kennung im öffentlich­en Raum durch eine lange Liste von Ausnahmen faktisch zu kippen.

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FOTO: IMAGO/CHRISTIAN OHDE Das Regelwerk zur KI in der EU soll einen geordneten Umgang mit der Technologi­e ermögliche­n.

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