EU-Parteien verklagen eigene Spitzenkandidaten
Die EVP und die S&D im Europaparlament haben sich einer Klage gegen die EU-Kommission wegen EU- Geldern für Ungarn angeschlossen. Damit bringen die Konservativen ihre Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen, die Sozialdemokraten ihren Bewerber Nicolas Schm
Die Brisanz des außergewöhnlichen Vorganges an diesem Donnerstag auf der Präsidialebene des Europaparlamentes in Straßburg wird wohl am besten deutlich, wenn man sie einmal kurz auf den Bundestag überträgt: Ist es denkbar, dass zwölf Wochen vor den Bundestagswahlen die Fraktionsvorsitzenden mit der Bundestagspräsidentin zusammensitzen und beschließen, eine wichtige Entscheidung der Ampel-Regierung vom Verfassungsgericht für nichtig erklären zu lassen? Würden die Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und FDP die Spitzenkandidaten von SPD und Grünen sowie den FDP-Minister mitten im Wahlkampf auf die Anklagebank zu bringen versuchen? Genau das ist auf europäischer Ebene soeben passiert.
Natürlich sind Europaparlament und Europäische Kommission zueinander nicht so aufgestellt wie Bundestag und Bundesregierung. Doch was die Entscheidung der sogenannten Präsidentenkonferenz in Straßburg bedeutet, macht der Chef der FDP-Gruppe im Parlament, Moritz Körner, deutlich, indem er an die besondere Rolle von Roberta Metsola, Präsidentin des Europaparlamentes und Politikerin der christlich-konservativen EVP, anknüpft: „Letzte Woche hat Parlamentspräsidentin Metsola zähneknirschend Ursula von der
Leyens EVP-Spitzenkandidatur mitgetragen. Jetzt leitet sie die Klage gegen von der Leyen beim Europäischen Gerichtshof ein.“
Es geht um die Entscheidung der EU-Kommission vom letzten Dezember, unmittelbar vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs 10,2Milliarden Euro gesperrter EU-Gelder an Ungarn freizugeben. Prompt ging Ungarns Regierungschefs Viktor Orbán auf den Vorschlag von Bundeskanzler Olaf Scholz ein, bei der Abstimmung über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine kurz den Saal zu verlassen, damit die übrigen 26 in seiner Abwesenheit die nötige Einstimmigkeit herstellen konnten. Pikant wurde der Vorgang durch Orbáns Ankündigung, zwei weitere Beschlüsse über den EU-Haushalt und Ukraine-Unterstützungen zu blockieren – und dies mit der Zuversicht zu verbinden, die nun noch gesperrten 20Milliarden ebenfalls freizubekommen.
Und das löste im Parlament einhellige Empörung aus. Die Fraktionsvorsitzenden hatten schließlich in der Woche vor von der Leyens 10,2-Milliarden-Entscheidung die Kommission ausdrücklich in einem gemeinsamen Brief genau davor gewarnt. Mitte Januar drohte das Parlament erstmals in einer von einer breiten Mehrheit getragenen Entschließung mit einer Klage. Gerichtet war das erkennbar auf den Sondergipfel am 1. Februar und bedeutete die klare parlamentarische Ansage, bloß nicht auch noch die restlichen 20 Milliarden zu entsperren. Einzelne Abgeordneten wollten der Kommission sogar mit einem Misstrauensvotum drohen. Daran kamen von der Leyen und ihr Kolleg noch einmal vorbei. Doch die Sache schwelte weiter, weil Teil der Resolution auch die Aufforderung an den juristischen Dienst des Parlamentes war, eine Klage vorzubereiten, um prüfen zu lassen, ob die Kommission mit der Pro-Orbán-Entscheidung gegen Regeln und Recht verstoßen hat.
Das Ergebnis der juristischen Prüfungen fiel nicht eindeutig aus. Das
Europaparlament müsse den EuGH davon überzeugen, dass die Kommission einen „offenkundigen Fehler“begangen habe und die Entscheidung der Kommission „unplausibel und nicht von den Fakten gedeckt“gewesen sei. Von der Leyen hatte auf die ungarische Justizreform verwiesen, die den Forderungen der EU entgegengekommen war. Allerdings bemängelten Beobachter, dass die Regierung in Budapest weiterhin Zugriffsrechte habe und das Manöver nicht ausgereicht habe, um die von der Europäischen Union verlangte Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz zu garantieren.
Damit sah sich insbesondere EVPChef Manfred Weber vor drei fundamentalen Fragen. Wie sieht es im Wahlkampf aus, wenn die EVP sich daran beteiligt, die eigene Spitzenkandidatin vor Gericht zu bringen?
Wie würde es andererseits wirken, wenn sich die EVP querstellt und damit den Gegnern im Wahlkampf den Vorwurf ermöglicht, Orbán schützen zu wollen? Und schließlich: Ist dieser Vorgang nicht der ideale Anlass, um höchstrichterlich klären zu lassen, welchen Spielraum die Kommission in der Frage von blockierten Mitteln hat? Schließlich hatte der EuGH noch nicht ausbuchstabieren können, welche Auswirkungen die Verschärfungen in der entsprechenden Novelle des EU-Rechtes haben müssen. Das waren zwei Argumente gegen eines, und so entschloss sich die EVP in der vorbereitenden Sitzung des Rechts
ausschusses mit fast allen anderen für die Klage zu stimmen. Nur der Vertreter der rechtspopulistischen ID-Fraktion votierte dagegen. Damit war auch klar, dass die letztlich entscheidende Runde der Parlamentspräsidentin grünes Licht geben würde, damit Metsola die Klage nun tatsächlich innerhalb der nächsten zehn Tage auf den Weg bringt.
Es geht nicht um eine Klage gegen von der Leyen allein, auch wenn im Dezember klar geworden war, dass die Freigabe von ihr persönlich mit vorangetrieben worden war. Zuständig für das Verfahren war auch Beschäftigungskommissar Nicolas Schmit. Somit verklagt die EVP nicht
nur die EVP-Spitzenkandidaten, sondern die Sozialdemokratie ebenfalls ihren eigenen. Und auch die Liberalen sind mit dem von ihnen gestellten Justizkommissar Didier Reynders mit im Boot, wenn es darum geht, eigene Leute auf die Anklagebank zu bringen.
Vorsichtshalber stellt GrünenRechtsstaatsexperte Daniel Freund klar, das sei eine „Entscheidung im Licht des Rechts, nicht des Wahlkampfes“gewesen. Klar sei aber auch, dass von der Leyen „den Rechtsstaat schützen und sich nicht auf faule Deals mit Orbán einlassen“solle. Der institutionelle Gedanke wird von vielen Abgeordneten geteilt und gilt der parlamentarischen Rolle aktuell und künftig. „Die Haltung des Europaparlamentes ist eindeutig: Wir schützen den Rechtsstaat in Europa“, unterstreicht Freund.
„Die Haltung des Europaparlamentes ist eindeutig: Wir schützen den Rechtsstaat in Europa“Daniel Freund (Grüne) Abgeordneter des Europaparlaments