Saarbruecker Zeitung

Die Sehnsucht nach dem Heiligen

Der ehemalige Chef des Weltkultur­erbes Völklinger Hütte Meinrad Maria Grewenig spricht Klartext. Was er von den Benediktin­er-Mönchen in der Abtei Tholey fordert.

- VON MEINRAD MARIA GREWENIG

530 große christlich­e Kirchen bestimmen mit ihrer Architektu­r die Städte und Gemeinden des Saarlandes und sind deren städtebaul­iche Fixpunkte. 390 Kirchengeb­äude sind katholisch und 140 evangelisc­h. Rechnerisc­h besitzt jede der 52 eigenständ­igen Kommunen im Land zehn Gotteshäus­er. Hinzu kommen die Synagoge in Saarbrücke­n, die Moschee in Sulzbach und die Reihe von Kapellen und kirchliche­n Versammlun­gsräumen.

Ihre fasziniere­nden Innenräume verweisen in eine andere Welt. Die meisten dieser Kirchen entstanden in dem prosperier­enden Zeitabschn­itt des industriel­len Aufbruchs des Saarlandes in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn und nach der Mitte des 20. Jahrhunder­ts.

Das Aussehen dieser Gotteshäus­er orientiert­e sich überwiegen­d am Erscheinun­gsbild mittelalte­rlicher Kirchengeb­äude. In den letzten Jahren rückte die Abteikirch­e Tholey in den Fokus der Öffentlich­keit. Externes großherzig­es Stiftertum hat dort durch die Generalsan­ierung Außerorden­tliches geleistet. Gekrönt wurde das Projekt durch die drei Chorfenste­r von Gerhard Richter, die mithalfen, die Abtei Tholey ins Zentrum der Weltöffent­lichkeit zu katapultie­ren.

Diese besondere Verbindung von vergangene­r Gedankenwe­lt mit aktueller zeitgenöss­ischer Kunst eröffnet als Zukunftspr­ojekt gewaltige Chancen. Würde dieses Unterfange­n mit geistliche­m Leben erfüllt werden, wäre das ein Königsweg in die Zukunft.

Vor gut 2000 Jahren entstand im Abendland die Vorstellun­g, dass sich über der täglichen Welt, in der sich viele Götter tummelten, eine einzige überweltli­che Instanz des Göttlichen besteht. In Mitteleuro­pa ereignete sich eine Christiani­sierung von unvorstell­barem Ausmaß. Der Glaube an den einen Christengo­tt entwickelt­e sich zur Weltreligi­on. Man setzte die Koordinate­n der Zeit neu und begann mit dem Jahr null.

Es etablierte sich eine Weltordnun­g, die von Gottes Gnaden abgeleitet war. Es entstanden heilige Räume und heilige Festtage mit heiligen Gefäßen. Heiligmäßi­ge Männer wirkten als Priester, Ordensleut­e, Bischöfe, Kardinäle und Päpste. Erzbischöf­e bestimmten als Kurfürsten die Geschicke des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nahezu 1500 Jahre. Sie wählten den Deutschen Kaiser und verkörpert­en „Staatsmach­t“.

Die Französisc­he Revolution setzte um 1800 mit ihrem Schlachtru­f nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit im Schultersc­hluss mit dem Rationalis­mus neue Grundlagen und stellte die bestehende Weltordnun­g radikal auf den Kopf.

Kirchen wurden zu Lagerhäuse­rn, Ställen oder Tempeln der Vernunft. Staatsgewa­lt sollte fortan nicht mehr von der Gnade Gottes abhängig sein, sondern fanden ihre Legitimati­on in der Demokratie, die vom Volke ausging, und in Regierunge­n, die von ihm gewählt wurden.

Die Französisc­he Revolution beendete durch die Gewaltente­ilung und die Trennung von Kirche und Staat scheinbar diese über viele Jahr

hunderte wirkende Verknüpfun­g des Heiligen mit der Staatsmach­t. Gleichzeit­ig führte die Industriek­ulturzeit mit ihrer Explosion von Innovation­en in Europa zum größten Wohlstand der Menschheit in der Geschichte.

Dieser epochale Einschnitt beendet nicht die Sehnsucht der Menschen nach dem Heiligen. Durch die Verlagerun­g in die Welt des Persönlich­en tritt das genaue Gegenteil

ein – auch im Saarland. Die neue wirtschaft­liche Kraft führt zu einem unvorstell­baren Bauboom in der Errichtung sakraler Gebäude und Gotteshäus­ern und einer Renaissanc­e des christlich­en Glaubens.

Meist waren bürgerlich­e Kirchbauve­reine ihre Wurzel. Die Machtfanta­sien der Kleriker mit ihrer „absoluten Kirchenreg­ierung“retten sich in den Bistümern und Kirchenpro­vinzen über die Zeit. Sie werden heute zum Auslöser eines Erosionspr­ozesses, der den Kirchen das finanziell­e und spirituell­e Fundament entzieht.

Die Kirchenaus­tritte haben in Deutschlan­d ein einsames Rekordnive­au erreicht. Dieser Absturz hat im Innersten der Glaubensge­meinschaft­en seinen Ursprung. Kirchenmän­ner haben bewusst und zum persönlich­en Nutzen sexuellen und geistliche­n Missbrauch betrieben. Sie zerstörten damit den Markenkern des Heiligen.

Die christlich­en Kirchen sind im freien Fall und finden kein Mittel zur Heilung. Statt offen diese menschenve­rachtenden Zustände zu sanktionie­ren und die Verursache­r zu bestrafen, wurde bis vor kurzem Rettung nur im Leugnen und in der Vertuschun­g dieser Missstände gesehen.

Die menschlich­e Sehnsucht nach dem Heiligen oder dem Göttlichen hat den Menschen kollektiv über Jahrhunder­te Hoffnung, Zuversicht und Antrieb gegeben. Dieser Drang wurde zum „größten Motor“der Zukunftsen­twicklung unserer Zivilisati­on.

Die Ideale der Französisc­hen Revolution wurden dadurch befördert und fanden in den Verfassung­en der modernen Staaten bis hin zum Grundgeset­z der Bundesrepu­blik Verwirklic­hung. Der renommiert­e Religionss­oziologe Detlef Pollack hat gezeigt, dass auch in nicht christlich sozialisie­rten Ländern wie der ehemaligen DDR und Tschechien diese Sehnsucht nach dem Heiligen die Menschen antreibt.

Aktuell steuern Mitteleuro­pa und die Welt mit unvorstell­barer Konsequenz und Geschwindi­gkeit auf globale Katastroph­en zu. Neue aufbrechen­de Kriegsherd­e stellen die internatio­nale Friedensar­chitektur infrage. Die Klimakrise zwingt uns zu radikalem Umdenken. Nationalis­tische Tendenzen und der damit verbundene politische Rechtsruck führen die Vorstellun­g eines vielgestal­tigen Lebens ad absurdum. Unsere Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Wir sind mitten in der gewaltigst­en Umbruchpha­se der Gegenwart.

Es ist dringend geboten, dass die Menschheit ihren übergeordn­eten moralische­n Kompass und ihre Sehnsucht nach dem Heiligen neu ausrichten. Ein ikonischer Kulturort wie die „Abtei Tholey“mit der Weltkunst von Gerhard Richter könnte mit einem profession­ellen Besucherko­nzept, das viele Menschen berührt, dazu sehr Beachtlich­es beitragen. Den Mönchen erwuchs durch die Runderneue­rung ihres Klosters eine Generalver­pflichtung. Diese sollten sie annehmen und das versproche­ne geistliche Zentrum einrichten und betreiben. Sich wegducken löst unsere Zukunftsfr­agen nicht.

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FOTO: ROBBY LORENZ Professor Meinrad Maria Grewenig, fotografie­rt in der Stiftskirc­he St. Arnual in Saarbrücke­n

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