Wer tötete den kleinen Grégory?
Ein getötetes Kind, ein krasser Racheakt, Drohbriefe: Der Fall um den vierjährigen Grégory Villemin aus der Region Grand Est ereignete sich vor fast 40 Jahren. Er sorgte europaweit für Schlagzeilen.
LÉPANGES-SUR-VOLOGNE Es ist ein übersichtliches Dorf in den Vogesen mit knapp 900 Einwohnern, fernab von Trubel. Doch im kollektiven Gedächtnis Frankreichs ist der Ort Lépanges-sur-Vologne zwischen Epinal und St. Dié seit den 1980er Jahren mit einem grausamen Verbrechen verbunden, das sich zu einer der prominentesten Kriminalgeschichten des Landes entwickelte.
An einem Dienstagnachmittag im Oktober 1984 holt Christine Villemin ihren Sohn Grégory bei der Tagesmutter ab. Während sie etwas im Haushalt erledigt, spielt der Vierjährige im Sandkasten im Vorgarten. Als sie nach kurzer Zeit wieder nach ihm schauen will, ist Grégory verschwunden.
Am Abend des 16. Oktobers 1984 wird seine Leiche im Fluss Vologne, sechs Kilometer entfernt von Lépanges gefunden. Die Kapuze seiner Weste ist über den Kopf des Jungen geschlagen; als der leblose Körper von der Polizei aus dem Fluss gefischt wird, sind seine Augen noch offen.
Er ist an Händen und Füßen mit einer Kordel gefesselt. Der Fund lässt keinen Zweifel: Grégory Villemin wurde ermordet, entführt, gefesselt und in den Fluss geworfen.
Schnell sorgt der Mord für Schlagzeilen. Im ganzen Land erzeugt er ein Gefühl der Unsicherheit. Wie kann ein solches Verbrechen in einem so übersichtlichen Ort passieren, an dem doch jeder jeden kennt und ein fremder Entführer sofort auffallen würde?
Einen ähnlichen Gedanken scheint auch die Polizei zu verfolgen, denn sehr bald konzentrieren sich die Ermittlungen auf Grégorys Familie. Bevor die Polizei den Fluss absucht, war bei Grégorys Onkel ein anonymer Bekenneranruf eingegangen. Am nächsten Tag erhalten die Villemins ein anonymes Bekennerschreiben, in dem der Mord an dem Kind als Racheakt angeführt wird. Es ist nicht das erste Mal, dass Drohbriefe und Anrufe die Familie unter Druck setzen.
Bereits Monate vor dem Mord an Grégory werden seine Eltern, Jean
Marie und Christine Villemin, von anonymen Anrufen belästigt. Auch die Eltern von Jean-Marie, Monique und Albert Villemin erhalten solche Drohanrufe. Konkrete Vorwürfe werden nicht formuliert, sondern immer wieder, dass der anonyme Anrufer die Familie Villemin „fertig machen“will.
Dabei kennt der Anrufer zu viele Details aus dem Familienleben der Villemins, um ein Fremder zu sein. Seit seiner Beförderung zum Vorarbeiter 1981 wird Jean-Marie Villemin immer wieder mit dem Neid der eigenen Verwandten konfrontiert, allen voran von seinem Cousin Bernard Laroche.
Überzeugt, dass der anonyme Briefschreiber und der Mörder dieselbe Person sind, unterziehen die Gendarmen fast 100 Menschen aus dem familiären Umfeld und des Dorfes der Villemin einer grafologischen Untersuchung – darunter auch Bernard Laroche. Dieser wird zum Hauptverdächtigen.
Und sein Alibi platzt. Seine minderjährige Nichte, Murielle Bolle, gibt vor den Ermittlern an, zur Tatzeit in Laroches Auto gesessen zu haben, als dieser Grégory abgeholt habe. Später seien die beiden ausgestiegen, aber Laroche alleine wieder zum Auto gekommen. Kurz danach zieht Bolle ihre Aussage zurück und wirft den Ermittlern vor, sie unter Druck gesetzt zu haben. Diese wiederum vermuten Druck aus dem Familienkreis.
Laroche, der in Untersuchungshaft saß, wird frei gelassen. Doch Grégorys Vater Jean-Marie bleibt überzeugt davon, dass sein Cousin seinen Sohn umgebracht hat. Rund einen Monat nach seiner Freilassung erschießt er seinen Cousin und landet dann selbst im Gefängnis.
Als nächste Verdächtige nimmt der Ermittlungsrichter Jean-Michel Lambert die Mutter von Grégory ins Visier. Aufgrund eines grafologischen Gegengutachtens wird sie verdächtigt, selbst die Drohbriefe an ihre Familie geschickt zu haben. Damals schwanger im sechsten Monat wandert sie in Untersuchungshaft, bevor sich nach elf Tagen der Verdacht gegen sie nicht erhärtet.
Die Arbeit von Lambert, der mehrere Strafverfahren eröffnete, die jedes Mal den Indizien nicht standhielten, steht schnell im Fokus der Kritik. Außerdem wird ihm vorgeworfen, trotz des Untersuchungsgeheimnisses Informationen an lokale Medien weitergegeben zu haben.
Rund 30 Jahre nachdem er vom Fall Grégory abgezogen worden war, nimmt sich Jean-Michel Lambert das Leben. In seinem Abschiedsbrief schreibt er, dass er sich aufgrund der damaligen Ereignisse nicht zum Sündenbock machen lassen wolle.
Erst zwei Jahre nach seinem Selbstmord erscheint beim Streaminganbieter Netflix die Mini-Doku-Serie „Wer hat den kleinen Grégory getötet?“, die fünf Folgen zählt. Lamberts Witwe und seine Tochter kritisieren darin die Darstellung der Geschichte und der Arbeit von Lambert als sehr parteiisch.
Auch fast 40 Jahre nach dem Tod des Jungen ist der Fall ungelöst.
Unzählige Dokumentationen und Fernseh-Fiktionen haben sich in den vergangenen Jahren mit dem Schicksal von Grégory Villemin und seiner Familie beschäftigt, vor allem in Frankreich. Zuletzt veröffentlichte 2019 der Streaming-Anbieter Netflix die fünfteilige Miniserie „Wer hat den kleinen Grégory getötet?“.