Keine neue Regierung für Haiti ohne seine Banden
Anschläge und eine Hungersnot bedrohen Haiti nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten. Kriminelle Gruppen beeinf lussen die unklare Zukunft.
(ap) Die Hauptstadt Haitis ist zu 80 Prozent unter Kontrolle von kriminellen Gruppen. Ohne sie wird es fast unmöglich sein, eine neue Regierung aufzustellen. Trotzdem wurden sie nicht einmal erwähnt, als in dieser Woche ein Fahrplan für die politische Zukunft des Landes vorgestellt wurde. Experten warnen: Der Plan sei zum Scheitern verurteilt, solange die Banden nicht eingebunden würden.
„Selbst wenn es eine andere Art von Regierung gibt, die Realität ist die, dass man mit den Banden reden muss“, sagt Robert Fatton, Haiti-Experte an der University of Virginia. Ihr Einfluss reicht in Haiti weit in die politischen und wirtschaftlichen Machtzentren hinein. Neu ist, dass sie zunehmend unabhängig von diesen agieren. Mit kriminellen Aktivitäten wie Entführungen mit Lösegeld-Erpressung sind sie zu Geld gekommen, für das sie ins Land geschmuggelte Waffen gekauft haben mit denen sie unterfinanzierte Polizei-Einheiten oft leicht überwältigen können.
Insgesamt gibt es in dem karibischen Krisenstaat laut Schätzungen mehr als 200 Banden, die meisten in der Hauptstadt Port-au-Prince und umliegenden Gebieten. Viele stehen mit einer von zwei großen „Koalitionen“in Verbindung. Jimmy Chérizier führt die eine an; er ist ehemaliger
Elite-Polizist und unter dem Spitznamen „Barbecue“bekannt. Gabriel Jean-Pierre und Johnson „Izo“André dominieren die zweite.
Kurz bevor Ministerpräsident Ariel Henry am Dienstag seinen Rücktritt ankündigte und Vertreter von Staaten der Karibikregion erklärten, dass ein Übergangsrat gebildet worden sei, hielt Chérizier eine improvisierte Pressekonferenz ab, in der er betonte, dass er jede Lösung ablehne, die von ausländischen Kräften gesteuert und unterstützt werde. „Das haitianische Volk wird entscheiden, wer regiert“, sagte der Bandenboss.
Die Unruhen halten derweil an. Weil die Flughäfen des Landes wegen der Gewalt geschlossen sind, konnte Henry, der ins Ausland gereist war, bisher nicht zurückkehren. Während er sich in Kenia für eine UN-Polizeimission zur Bekämpfung der Banden einsetzte, griffen diese in der Heimat wichtige Regierungseinrichtungen an. Vor einer Woche erreichte der Ministerpräsident das naheliegende US-Außengebiet Puerto Rico. Von dort aus verkündete er seinen geplanten Rücktritt.
Chérizier hat sich zu den jüngsten Angriffen bekannt, bei denen etliche Menschen ums Leben gekommen sind. Laut UN mussten mehr als 15 000 Haitianer aus ihren Häusern flüchten. Am Dienstag sagte der Landesdirektor des Welternährungsprogramms, Jean-Martin Bauer, vier Millionen Haitianer seien von akuter Nahrungsunsicherheit bedroht.
Der Übergangsrat soll einen neuen vorübergehenden Ministerpräsidenten ernennen. Das Gremium soll sieben stimmberechtigte Mitglieder haben und zwei ohne Stimmrecht. Ein Platz ist für die Partei Pitit Desalin vorgesehen, geleitet vom ExPräsidentschaftskandidaten Moïse Jean-Charles. Dieser ist heute ein Verbündeter von Guy Philippe, der 2004 einen erfolgreichen Putsch anführte. Der Prozess, der zu diesem Rat geführt hat, ist laut Experten äußerst fragwürdig. Aus Sicht des Experten Jake Johnston vom Center for Economic and Policy Research in Washington würden Chérizier und andere Bandenführer womöglich versuchen, jemandem wie dem einstigen Rebellenführer Guy Philippe zur Macht zu verhelfen. Laut Renata Segura von der Organisation International Crisis Group sei Philippe „einer der ganz wenigen Politiker, die im Moment eine offene Leitung zu den Banden“hätten, sagt sie. Es sei wahrscheinlich, dass er im Hintergrund bereits mit diesen verhandle. Viele Haitianer bezweifeln, dass sich die Lage bald bessern wird.
„Selbst wenn es eine andere Art von Regierung gibt, die Realität ist die, dass man mit den Banden reden muss.“Robert Fatton Haiti-Experte an der University of Virginia.