Die vergessenen Kinder der Förderschulen
An der Mehrzahl der Förderschulen im Saarland gibt es weder eine Nachmittagsbetreuung, die diesen Namen verdient, noch eine Ferienbetreuung. Das stellt die Eltern behinderter Kinder vor schier unlösbare Probleme. Sie fordern Gleichbehandlung.
Ist der Unterricht beendet, beginnt für Nina Bonn der tägliche Wettlauf mit der Zeit. Die Lehrerin hastet nach Hause, um rechtzeitig da zu sein, wenn der Bus mit ihrer 14-jährigen Tochter ankommt. Lisa besucht eine staatliche Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung, die Schule am Webersberg in Homburg. Es handelt sich um eine „Förderschule im Ganztagsbetrieb“– eine irreführende Bezeichnung, lässt sie doch auf Unterricht und Betreuung auch während des Nachmittags schließen, vergleichbar mit den allgemeinbildenden Ganztagsschulen. Dem ist aber nicht so. An der Homburger Schule ist an drei Wochentagen um Viertel vor drei, an den anderen beiden Tagen um Viertel vor eins Schluss. Für berufstätige Eltern sind diese Zeiten kaum zu schaffen. Nina Bonn, die zudem einen elfjährigen Sohn ohne Handicap hat, kämpft als Sprecherin einer Elterninitiative für die Gleichbehandlung der Kinder.
Homburg ist kein Sonderfall. Die „Förderschulen im Ganztagsbetrieb“– es gibt 18 im Saarland –, sind mit Blick auf die Unterrichts- und Betreuungszeiten „Pseudo-Ganztagsschulen“, wie Nina Bonn sagt. Von den restlichen 21 Förderschulen im Saarland, die in Halbtagsform geführt werden, halten nach Angaben des saarländischen Bildungsministeriums insgesamt 14 ein Betreuungsangebot am Nachmittag vor (Freiwillige Ganztagsschulen, kurz FGTS). Eine solche FGTS-Betreuung dürfen die Förderschulen mit dem Etikett „Ganztags“nicht installieren. Das gibt das saarländische Schulgesetz vor. Auch eine Ferienbetreuung, an Regelschulen selbstverständlich, ist für die meisten Eltern von Förderschulkindern ein seit langem unerfüllter Wunsch. Eine Klage Betroffener, die auf Gleichbehandlung pochten, scheiterte mit Verweis auf die gesetzlichen Besonderheiten bereits 2012 vor dem Oberverwaltungsgericht.
Für Nina Bonn bedeutet das etwa, dass entweder sie oder ihr Mann zuhause sein muss, um die Betreuung der Tochter sicherzustellen. „Ferien haben wir versetzt.“Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Eine Betreuung im Rahmen eines Hortes wäre auch an einer Ganztagsschule derzeit gesetzlich möglich. Die Förderschulen in Püttlingen und Merchingen sind die ersten Ganztagsschulen, die inzwischen eine Hort-Betreuung anbieten. Möglich wurde dieses zunächst als Modellprojekt geschaffene Angebot dank der Hartnäckigkeit einiger Eltern, der Unterstützung des früheren Landesbehindertenbeauftragten Prof. Daniel Bieber und der Bereitschaft freier Träger, der Lebenshilfe Völklingen und Merzig.
Anders als die Betreuung in Freiwilligen Ganztagsschulen ist ein Hort ein eigenständiges pädagogisches Angebot, der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet und in der Regel nicht verzahnt mit der Arbeit der Schulen. „Um einen Hort zu gründen, braucht man eine Betriebserlaubnis durch das Landesjugendamt. Das Bildungsministerium ist zuständiger Kostenträger, das Sozialministerium muss ebenfalls Kosten für den so genannten ,behinderungsbedingten Mehrbedarf` übernehmen“, erklärt Juliane Kästner, bei der Lebenshilfe Völklingen zuständig für das Hortangebot. Eineinhalb Jahre dauerte es vom gefassten Plan bis zur Realisierung des Hortes in der Köllertalschule in Püttlingen im Oktober 2022. Das Angebot umfasst eine Nachmittagsbetreuung bis 17 Uhr und Ferienbetreuung an 33 Tagen im Jahr von acht bis 17 Uhr. Die Hortplätze, 20 gibt es, sind begehrt. Eine Ausweitung scheitert schon am Platzmangel. „Die Förderschulen sind völlig überlaufen. Es gibt in Püttlingen keine Funktionsräume mehr“, so Kästner. Man denke darüber nach, weitere Räumlichkeiten anzumieten. „Der Bedarf ist groß und wird noch steigen“, prognostiziert sie. Gerade die jungen Eltern hätten heute eine ganz andere Erwartungshaltung, hat sie festgestellt. „Wir haben auch schon Anfragen aus anderen Förderschulen, zum Beispiel Heusweiler.“
Der Fachkräftemangel stellt auch die Lebenshilfe vor Herausforderun
gen. „In allen Bereichen könnten wir direkt nachpersonalisieren“, sagt Ralph Schneider, Geschäftsführer der Lebenshilfe Völklingen. Es sei nicht einfach, für eine Teilzeitbeschäftigung im Hort die notwendigen Fachleute zu finden. Aktuell bezahlen die Eltern monatlich 99 Euro für den Hort, darin enthalten sind ein Teil der Personalkosten und die Transportkosten. Die Frage der Zuständigkeit für den Transport der Kinder und Jugendlichen ist zwischen Bildungs- und Sozialministerium allerdings noch nicht endgültig geklärt. Deshalb hat man sich bei den Kosten – vorerst – auf eine „Pauschallösung“geeinigt. „Der Schulweg befindet sich in Trägerschaft des Bildungsministeriums. Der Hort ist aber nicht mehr Schule. Sollte er unter soziale Teilhabe fallen, wäre das Sozialministerium zuständig. Aber eigentlich ist der Hort ja ein Bildungsangebot“, beschreibt Juliane Kästner das Behörden-Dilemma. Ob auch im kommenden Schuljahr die Pauschallösung gilt? Schneider: „Das ist noch völlig offen. Die Ungewissheit ist für freie Träger das Problem. Es müsste auf Landesebene alles in einer Zuständigkeit liegen.“
Nina Bonn kämpft weiter für ein
Hortangebot an der Webersbergschule. „Wir versuchen gehört zu werden, auch in den Ministerien. Aber bisher ohne zählbares Ergebnis. Im Grunde will keiner wissen, was wir da stemmen. Wir sind auch müde“, sprudelt es aus ihr. Mit mehreren Trägern sei man inzwischen im Gespräch, etwa mit der CJD Homburg, die bereits Erfahrung mit Betreuung in Freiwilligen Ganztagsschulen hat. Was Nina Bonn zusätzlich frustriert: „Es gibt für behinderte Kinder generell nachmittags nur wenige Freizeitangebote, kaum Vereine, die diese Kinder aufnehmen. Sie sind überall raus. Wer gibt ihnen die Möglichkeit, Freude am Leben zu haben?“
„Förderschulen sind eigentlich das vergessene Kind“, räumt die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, Jutta Schmitt-Lang, ein. Das Thema sei „extrem komplex. Wir bräuchten von Landesseite strukturelle Unterstützung“. Unterstützung werde es auch geben, sagt das Land. Mit Blick auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Primarbereich, der ab dem Schuljahr 2026/27 stufenweise eingeführt wird und auch für Förderschulkinder gilt, sei man in Gesprächen mit den Freiwilligen Ganztagsschulen,
„an denen bislang noch kein Ganztagsangebot eingerichtet ist“, erklärt das Bildungsministerium und fügt mit Verweis auf die „gemäß Schulordnungsgesetz in Ganztagsform geführten Förderschulen“hinzu: „Auch hier arbeitet unser Haus derzeit an in Betracht kommenden Lösungsmöglichkeiten.“