Diskretes Geld für neue Theorien zum Krebs
Die IB- Cancer Research Stiftung finanziert die Forschung, die nach Auslösern für Krebserkrankungen fahndet. Wie weit sind die Forscher Dr. Rainer Hanselmann und Professor Cornelius Welter in Saarbrücken?
Wie entsteht ein Tumor? Die Deutsche Krebshilfe gibt auf diese Frage eine klare Antwort. „Krebszellen entstehen“, schreibt sie in einem Patientenratgeber, „wenn sich bestimmte Abschnitte der Erbsubstanz verändern, diese Veränderungen nicht mehr repariert und die Erbinformationen dadurch verfälscht werden“. Das Deutsche Krebsforschungszentrum formuliert ein wenig differenzierter: „Tumoren unterscheiden sich vom gesunden Gewebe in zahllosen Merkmalen. Tausende von Erbgutveränderungen und abweichende Markierungen am Krebserbgut fördern das aggressive Wachstum.“
Beide Erklärungen haben eines gemeinsam: Sie sehen den Ausgangspunkt einer Tumorerkrankung ausschließlich im Erbgut. Und das wiederum erscheint Dr. Rainer Hanselmann und Professor Cornelius Welter als Erklärung nicht ausreichend. Die Saarbrücker Wissenschaftler sind überzeugt, dass es weitere Krebsauslöser geben muss. In ihren Labors im Saarbrücker Science Park an der Saar-Universität sammeln die beiden Mediziner Indizien, die diese These untermauern sollen.
Hanselmann und Welter sind schon viele Jahre als Wissenschaftler tätig. Sie halten nichts von Wunderheilern, propagieren keine esoterischen Therapiekonzepte und wollen aktuelle Krebstherapien nicht in Zweifel ziehen. „Aber andererseits“, sagen sie, „ist unsere Theorie natürlich nicht Mainstream. Sie gilt als unkonventionell“– auch wenn sich in der Krebsforschung in den vergangenen Jahren die Fragezeichen gemehrt hätten. Es gebe eine zunehmende Zahl von Hinweisen, „die Zweifel an der Mutationstheorie als alleiniger Krebsauslöser aufkommen lassen.“Hanselmann und Welter definieren das Ziel ihrer Arbeit deshalb so: „Wir wollen mit unseren Ideen die heu
tigen Theorien nicht ersetzen, sondern ergänzen.“
Wer die herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung in Zweifel zieht, benötigt gute Argumente. Die werden in den Lebenswissenschaften in Laborexperimenten gewonnen. Das setzt einen langen Atem voraus – und Geld, sehr viel Geld. An dieser Stelle endet deshalb oft die Geschichte auch guter Denkansätze – dann nämlich, wenn weder die großen Wissenschaftsorganisationen noch industrielle Geldgeber bereit sind, für solche Forschung zu zahlen.
Doch keine Regel ohne Ausnahme – und Rainer Hanselmann und Cornelius Welter sind in dieser glücklichen Lage. Sie können sich losgelöst vom stressigen Klein-Klein einer Forschungsbürokratie ihrer Arbeit widmen und müssen nicht ständig an den nächsten Quartalsbericht denken. Ihre Arbeit wird von einer im Saarland weithin unbekannten Einrichtung finanziert. Die IB-Cancer Research Stiftung kommt für die Saarbrücker Suche nach den Krebsauslösern auf. Hinter ihr steht eine Frankfurter Mäzenin mit saarländischen Wurzeln. Die Initialien
„IB“stehen für Ibeth Biermann. Ibeth Lotte Biermann, geborene Duchêne, führte bis 2008 ein weltweit aktives Unternehmen der Werkzeugbranche. Nach dessen Verkauf fördert die diskrete Geldgeberin unter anderem Forschungsprojekte rund ums Thema Krebs. Dazu gehört die 2018 gegründete und nicht minder zurückhaltende IB-Cancer Research Stiftung, die im Saarbrücker Science Park sechs Mitarbeiter beschäftigt und dort ihr Labor betreibt. Die Rahmenbedingungen für den Aufbau dieser Einrichtung seien in Saarbrücken schlicht optimal gewesen, sagen Rainer Hanselmann und Cornelius Welter.
Cornelius Welter war Professor für Humangenetik der Saar-Universität, Rainer Hanselmann arbeitete als Arzt in der Unfallchirurgie des Homburger Uni-Klinikums und später am Saarbrücker Lehrstuhl des Experimentalphysikers Professor Uwe Hartmann. Hanselmann vertritt in Sachen Krebs einen Denkansatz, der eher der Physik, denn der Medizin entlehnt zu sein scheint. Die moderne Genforschung habe die Zelle als Motor des Lebens als kom
plexes, selbstorganisierendes System analysiert. In solchen Systemen sei es schlicht undenkbar, dass nur Veränderungen eines einzigen Parameters, eben den Genen, eine Krebserkrankung hervorrufen könne.
Immer mehr Ergebnisse von Erbgutanalysen deuteten darauf hin, dass die heute gültige Erklärung der Krebsentstehung nicht in allen Fällen greifen könne. So gebe es Tumorgewebe, dessen Zellen keinerlei Mutationen aufwiesen – und dann wiederum würden in Zellen aus völlig gesundem Gewebe, wie es zum Beispiel in der kosmetischen Chirurgie anfällt, tausende Mutationen gefunden. In ChromosomenAnalysen von Zellen chronischer Wunden seien genetische Veränderungen entdeckt worden, die exakt denen aus Tumorgewebe glichen, in anderen Forschungsergebnissen sei beschrieben, dass sich Tumorzellen in gesundes Gewebe zurückverwandeln ließen, ohne dass dabei die krebstypischen Mutationen verschwänden, erklären Hanselmann und Welter. Deshalb gehen beide Wissenschaftler davon aus, dass Veränderungen im Erbgut Auslöser für eine Krebserkrankung sind – aber keineswegs als einzig möglicher Auslöser in Frage kommen. Dafür gebe es auch eine recht gute Analogie, sagt Rainer Hanselmann. In der aktuellen Klimadebatte erkläre auch kein Wissenschaftler, dass bei der vom Menschen verursachten Erderwärmung ausschließlich Kohlendioxid eine Rolle spiele.
Wie hoch schätzen die beiden Saarbrücker Forscher den Anteil der Krebserkrankungen, der nicht auf den Faktor Gene zurückgeht? Das sei unmöglich zu beziffern, lautet die Antwort. „Wir wissen aber, dass bei 7,5 Prozent der Lungenkarzinome keine Krebsmutationen gefunden werden und Zellen frühkindlicher Tumoren oft keinerlei Erbgutveränderungen haben“, sagt Rainer Hanselmann.
Jenseits der Gene haben die beiden Saarbrücker Forscher drei weitere Faktoren als mögliche Krebsauslöser im Visier. Dazu gehören Veränderungen im Energiehaushalt, in den biochemischen Reaktionen in und außerhalb der Zellen und die sogenannte Zellmechanik. Damit ist zum Beispiel die „Aufhängung“einer Zelle an anderen Zellen der Nachbarschaft gemeint. Dabei geht es nicht allein um den physischen Kontakt untereinander, sondern auch um ihren Informationsaustausch, denn Körperzellen kommunizieren über spezielle Rezeptoren in ihren Membranen. Und einem dieser Rezeptoren, „Notch“genannt, gilt das besondere Augenmerk der Saarbrücker Forscher. Er spiele eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Abläufen der Zellteilung und -entwicklung. Der sogenannte Notch-Signalweg sei bei der Zelldifferenzierung wichtig und steuere zum Beispiel die Entwicklung von Organen und Geweben im Embryo. Notch spiele ebenfalls eine Rolle bei der Auslösung des Selbstzerstörungsmechanismus (Apoptose) einer Zelle. Eine gesunde Zelle verfügt über einen solchen Notschalter – bei Krebszellen ist er deaktiviert.
Die Forscher der IB Cancer-Research Stiftung konzentrieren sich bei ihrer Arbeit auf diesen Rezeptor, erklärt Rainer Hanselmann, weil er auf alle vier Faktoren anspreche, die sie als mögliche Auslöser eines Tumors ins Visier genommen haben. Diese Abläufe wollen sie im Labor simulieren. Wenn es dabei im Reagenzglas auf unterschiedlichen Wegen gelinge, die Verwandlung einer gesunden in eine Tumorzelle anzustoßen, sei das ein starker Hinweis, um künftig über die Krebsauslöser neu nachzudenken, so Rainer Hanselmann und Cornelius Welter.