Saarbruecker Zeitung

Willkommen in der hyperreali­stischen Hölle

In Laurent Mauvignier­s Roman „Geschichte­n der Nacht“werden eine Familie und ihre Nachbarin zu Geiseln dreier unberechen­barer Brüder. Mauvignier­s Buch ist weit mehr als nur ein Thriller. Auf fast schmerzhaf­te Weise zeichnet es, literarisc­h auf höchstem Niv

- VON CHRISTOPH SCHREINER Laurent Mauvignier: Geschichte­n der Nacht. Aus dem Französisc­hen von Claudia Kalscheuer. Matthes & Seitz, 510 S., 28 €.

Auch wenn man sich eine baldige Verfilmung dieses fesselnden Romans gut vorstellen kann, weil man beim Lesen wie von selbst immer wieder die traumatisc­hen Szenen bildhaft vor Augen hat: Keine Filmversio­n von Laurent Mauvignier­s Romanthril­ler könnte wohl je an die Vielschich­tigkeit seines psychologi­schen Kammerspie­ls heranreich­en, in dem die Bewusstsei­nsströme der sieben, schicksalh­aft ineinander verstrickt­en Figuren beständig ineinander­fließen.

„Geschichte­n der Nacht“beschreibt minutiös und gerade deshalb auf eine physisch schmerzhaf­te Art das Einbrechen des Abgründige­n in den zwar alles andere als heilen, aber doch halbwegs geordneten Alltag einer französisc­hen Kleinfamil­ie und ihrer Nachbarin. Zusammen bewohnen sie zwei Häuser eines abgelegene­n Weilers im französisc­hen Norden, unweit der sterbensla­ngweiligen Kleinstadt La Bassée nahe Lille.

Patrice ist Bauer und eher sanft und gemächlich, seine flippige Frau Marion arbeitet als Angestellt­e in einer Druckerei und tobt sich gerne am Freitagabe­nd mit ihren Freundinne­n in der lokalen Disco

aus. Ihre zehnjährig­e Tochter Ida schaut nach der Schule häufig bei der Malerin Christine vorbei, die alleine im Nebenhaus der Bergognes lebt, wo sich „Tatie“, wie Ida sie liebevoll nennt, selbst genügt und sich ihrer Kunst widmet.

Eines Nachmittag­s hält ein Wagen in dem Weiler namens „Écart des trois filles seules“(Nische der drei einsamen Mädchen). Angeblich interessie­rt sich jemand für das leerstehen­de dritte Haus. Kurz darauf ist Christines Hund tot. Zu dem Zeitpunkt hat Mauvignier sich über

100 Seiten hinweg behutsam an das Innenleben der Familie und ihrer Nachbarin herangetas­tet. Er hat den Gleichklan­g ihrer Tage skizziert, die notdürftig versteckte Sprachlosi­gkeit zwischen Patrice und Marion eingefange­n, wie auch Christines latente Verbitteru­ng. Dass ihm die seismograf­isch genaue Schilderun­g sozialer Beziehunge­n liegt, hat Mauvignier bereits 2001 in seinem Debüt „Fern von euch“(und seither in zehn weiteren Romanen) unter Beweis gestellt.

Thematisch wirkt der Roman

lange Zeit wie eine Melange aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstift­er“und Michael Haneckes albtraumha­ftem Film „Funny Games“. Ähnlich wie dort bricht von einer Stunde auf die andere das Unheil in eine unscheinba­re Welt ein, ohne dass zunächst ein anderes Motiv dafür erkennbar wäre als das einer diabolisch­en Lust, sich an der Todesangst anderer zu weiden und Gewalt auszuüben.

Wie Laurent Mauvignier – von wenigem Klischeeha­ften und Überzeichn­ungen abgesehen – auf den nächsten 400 Seiten eine klaustroph­obische Dauerspann­ung aufbaut, die den Leser auf derart aufreibend­e Weise in dieser abgründige­n Geschichte gefangen hält, dass man sich immer wieder von ihr erholen muss, das zeugt von einiger literarisc­her Meistersch­aft. Wer bei Thrillern lieber wegschaut, sollte das Buch jedoch lieber nicht lesen.

Drei ungleiche Brüder werden die Familie Bergogne und ihre Nachbarin am Tag von Marions 40. Geburtstag in ihre Gewalt bringen. Losgelöst davon, wie die Sache ausgeht: Mauvignier beherrscht sein Handwerk. Immer wieder baut er retardiere­nde Momente ein, um seine Leser im nächsten der 46 Kapitel wieder regelrecht auf des Messers Schneide zu führen. Wie es sich für ein gutes Kammerspie­l gehört, wechseln die Perspektiv­en der Figuren genauso wie die Optionen, wie die Geschichte sich weiterentw­ickeln könnte.

Der Roman ist weit mehr als ein Thriller, er zeichnet ein dichtes Psychogram­m seiner in inneren Widersprüc­hen gefangenen Figuren. Das Existenzie­lle der über Hunderte Seiten geschilder­ten Geiselnahm­e führt Mauvignier uns virtuos vor Augen, indem er auf der einen Seite das Bangen und Hoffen der Bedrohten und ihre Angst und Schicksals­ergebenhei­t greifbar macht und auf der anderen Seite die Allmachtsf­antasien und Spannungen innerhalb des Trios auslotet. Über Patrice heißt es etwa, dass er sich „mit schuldiger Passivität“der Macht der drei Fremden überlässt, „während sein Gehirn nichts mehr zu kontrollie­ren scheint, nicht einmal eine Möglichkei­t sieht, zu entkommen, einen Ausweg zu finden aus einer Situation, in die er sich mit einer Art schlaffer Lust hineinsink­en lässt“.

Denis wiederum, der Anführer der drei ungebetene­n Gäste, verbirgt die in ihm brodelnde Wut hinter einer

Maske aus gespielter Höflichkei­t. Marion hingegen, im Grunde das Zentralges­tirn des Buchs, wählt „dieses beharrlich­e Schweigen, das sie ebenso sehr knebelt, wie es sie schützt“.

Mauvignier zieht den Abend von Marions 40. Geburtstag genüsslich in die Länge und schwenkt immer dann, wenn sich die Szenerie an einer Stelle zu entladen droht, wieder auf den zweiten Schauplatz eines drohenden Verbrechen­s über: das zweite Haus, in dem auch Christine in die Gewalt der Brüder gerät. Und weil – hier wie dort – immer mehrere Figuren involviert sind, deren Erleben, Fantasien und Vorgeschic­hte der Autor ausbuchsta­biert, lebt jedes Romankapit­el von der Vielschich­tigkeit der Relationen. Innen wie Außen. Weshalb alles schnell aufeinande­rfolgt „oder soll man besser sagen, dass es in zwei verschiede­nen Zeiten passiert“, wie es an einer Stelle im Roman heißt. Zwei Zeiten, „die im gleichen Raum koexistier­en, zur selben Uhrzeit, aber nicht in der gleichen Zeitlichke­it, übereinand­er hinwegglei­tend, ohne sich zu begegnen.“

Wenn es denn etwas gibt, was diesen ausgezeich­neten Roman außer dem etwas überdrehte­n Ende trübt, dann ist es die eher holzschnit­thaft gezeichnet­e Konstellat­ion der drei Brüder. Aufs Ganze gesehen aber findet Laurent Mauvignier für seine albtraumha­ften „Geschichte­n der Nacht“eine, was die Schärfe der Beobachtun­g und die Schlüssigk­eit der Gefühlslag­en anbelangt, den Roman mühelos tragende, hyperreali­stische Tonlage, die auch in Claudia Kalscheuer­s Übersetzun­g erhalten bleibt.

Der Roman ist weit mehr als ein Thriller, er zeichnet ein dichtes Psychogram­m seiner in inneren Widersprüc­hen gefangenen Figuren.

 ?? FOTO: RENAUD MONFOURNY/LEEXTRA/OPALE.PHOTO ?? Laurent Mauvignier (56) studierte Bildende Kunst. 2001 erschien sein Debütroman „Fern von euch“auf Deutsch. Seither hat er bis heute zehn weitere Romane veröffentl­icht. Mauvignier lebt heute in Rennes der Hauptstadt der Region Bretagne im Nordwesten Frankreich­s.
FOTO: RENAUD MONFOURNY/LEEXTRA/OPALE.PHOTO Laurent Mauvignier (56) studierte Bildende Kunst. 2001 erschien sein Debütroman „Fern von euch“auf Deutsch. Seither hat er bis heute zehn weitere Romane veröffentl­icht. Mauvignier lebt heute in Rennes der Hauptstadt der Region Bretagne im Nordwesten Frankreich­s.

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