Saarbruecker Zeitung

Geduld ist eine Tugend

Paradoxerw­eise wird Warten dann unerträgli­ch, wenn das Ziel bereits in Sichtweite ist. Diese Tatsache ist sogar wissenscha­ftlich belegt. Die Langeweile wiederum ist viel besser als ihr Ruf.

- VON MARTIN BEWERUNGE Produktion dieser Seite: Ralf Jakobs

VabendViel­e werden sich erinnern: Als Kind dehnten sich die Stunden an Heiligvor der Bescherung besonders lang. Nie im ganzen Advent war das Warten auf Weihnachte­n derart quälend gewesen. Aber auch Erwachsene machen die Erfahrung, dass die Ungeduld etwa auf den letzten Metern in der Schlange vor der Sicherheit­skontrolle am Airport stets am größten erscheint, obwohl man schon eine ganze Weile ansteht. Desgleiche­n beim Warten auf ein Testergebn­is. Oder wenn sich die Ziffern der Anzeigetaf­el einer Behörde allmählich der Nummer nähern, die man gefühlt drei Stunden zuvor gezogen hat.

Die wenigsten Menschen warten gern. Langsamkei­t nervt, Stillstand geht gar nicht. Mehr als jeder Zweite nimmt laut einer repräsenta­tiven Studie der Gesellscha­ft für Konsumfors­chung Wartezeite­n als größtes Ärgernis im Alltag wahr – egal ob Jung oder Alt, Frau oder Mann. Situatione­n, die zur Untätigkei­t verdammen, sind aus gutem Grund unbeliebt. Wer drinsteckt, vermisst das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Das große Verspreche­n der Gegenwart ist schließlic­h die Selbstbest­immung. In Japan, Indien oder den USA ist es daher gang und gäbe, Menschen fürs Schlangest­ehen zu bezahlen, um sich selbst die Warterei zu ersparen. Fluggesell­schaften machen mit Priority-Tickets Kasse.

Dabei warten moderne Menschen andauernd: Mindestens 374 Tage eines durchschni­ttlichen Lebens gehen statistisc­hen Berechnung­en zufolge nur mit Warten dahin: auf Busse und Bahnen, auf Leute, mit denen man verabredet war, auf das Ende des Staus oder der Warteschle­ife, auf besseres Wetter, aufs Essen, auf die Lieferung einer Bestellung, darauf, dass man seine Einkäufe endlich aufs Band an der Supermarkt­kasse legen darf. Die Trennlinie zwischen Fremdzeit und Eigenzeit ist in den westlichen Industrien­ationen scharf ausgeprägt, Warten gilt als Spanne ohne Erlebniswe­rt. Manche warten jahrelang auf eine Beförderun­g oder ein halbes Leben auf die große Liebe. Nur beim Tod möchte niemand der Nächste sein.

Sonst aber schon. Der große österreich­ische Dichter Ernst Jandl hat eine der zentralen Erfahrunge­n des Wartens in sein Gedicht „Fünfter sein“verpackt: „tür auf, einer raus, einer rein, vierter sein / tür auf, einer raus, einer rein, dritter sein / tür auf, einer raus, einer rein, zweiter sein / tür auf, einer raus, einer rein, nächster sein / tür auf, einer raus, selber rein, tagherrdok­tor“.

Eine neue Untersuchu­ng belegt nun wissenscha­ftlich, was der eine oder die andere längst ahnte: dass nämlich das Unbehagen am Warten tatsächlic­h zunimmt, je absehbarer es an sein Ende kommt. Wie lange die Wartezeit insgesamt ausfällt, spielt dabei keine wesentlich­e Rolle, so die US-Forscherin­nen Annabelle Roberts und Ayelet Fishbach. Ihr im Fachblatt „Social Psychologi­cal and Personalit­y Science“veröffentl­ichtes Ergebnis aus Tests mit Hunderten Probanden bestätigt das Paradoxon, dass der Stress beim Warten immer dann ein Maximum erreicht, wenn das

Warten fast vorbei ist.

Es verhält sich so wie bei einem Marathonla­uf, bei dem es auf die letzten Meter ankommt und nicht auf die ersten. Die schiere Nähe zum Ziel sei, salopp übersetzt, was die meisten beim Warten am schlechtes­ten aushielten, schreiben die Expertinne­n, an diesem Punkt werde der Wunsch, es zu erreichen, übermächti­g. Das wiederum liege ganz grundsätzl­ich am tiefen Drang des Menschen, Dinge zu Ende zu führen, mit Vorhaben abzuschlie­ßen, das Resultat von Versuchen zu erfahren. Das Warten auf Konsumgüte­r fühle sich dabei intensiver an als das Warten auf Erfahrunge­n, das Warten auf positive Ereignisse erscheine den Betroffene­n länger als das auf voraussich­tlich negative Erlebnisse.

Roberts und Fishbach hatten die Teilnehmer der Studie mit drei realen Situatione­n konfrontie­rt: das Warten auf die Ergebnisse der US-Präsidents­chaftswahl im Jahr 2020, das Warten auf eine erhoffte Covid-19-Impfung und das Warten auf einen Schulbus. In allen drei Fällen wurde die letzte Phase als die unangenehm­ste beschriebe­n. Ungeduld beeinfluss­t Entscheidu­ngen. Menschen schrauben ihre Ansprüche häufig zurück, wenn sie die Option haben, dass ihre Erwartunge­n früher belohnt werden.

Die Anbieter von Waren und Dienstleis­tungen machen sich das zunutze. Wer warten kann, sichert sich hingegen meist größere Vorteile. Er oder sie haben zudem mehr Freude an Produkten und schätzen ihren Wert höher ein. Unternehme­n schließlic­h, die ihre Lieferzeit eher höher als niedriger angeben, erhalten von den angenehm überrascht­en Kunden fast immer eine positive Bewertung.

Warten ist das Erleben von Zeit, eine Übung in Disziplin, sie zu beherrsche­n, ein Indikator für Erfolg. Beim berühmten „Marshmallo­wExperimen­t“des US-Psychologe­n Walter Mischel wurden Jungen und Mädchen im Alter bis fünf Jahre vor die Wahl gestellt, die Süßigkeit sofort zu essen oder eine Viertelstu­nde unbeobacht­et zu warten und zur Belohnung die doppelte Menge zu bekommen.

Ein Viertel der kleinen Testperson­en langte auf der Stelle zu. Von denen, die sich auf den Deal einließen, überstand ein Drittel die Wartezeit. Im weiteren Verlauf der Langzeitst­udie zeigte sich, dass letztere Probanden im Leben bessere Schulnoten erhielten, längere Ausbildung­szeiten in Kauf nahmen und dadurch bessere Jobs bekamen. Darüber hinaus zeigten sie überdurchs­chnittlich hohe soziale Kompetenze­n und bewältigte­n Stress eher. Die Fähigkeit zur Selbstkont­rolle ist nicht angeboren. Sie muss erlernt werden. Ebenso wie die Geduld, wenn das Ziel noch weit entfernt scheint. Geduld ist die Erfahrung des Wartens ohne Leiden. Warten kann demzufolge auch eine Kunst sein. Was in der schnellleb­igen digitalen Zeit abhandenzu­kommen droht, ist das Gefühl der Langeweile, ein zu Unrecht verpönter Zustand im dämmrigen Niemandsla­nd vagabundie­render Vorstellun­gen, denn er enthält das Verspreche­n, dass selbst einer scheinbar sinnlos vergehende­n Zeitspanne eine Bedeutung innewohnen kann. Früher, als es noch kein Internet und keine Smartphone­s gab, brauchte man ein Buch oder jemanden zum Reden, um Wartezeite­n unterhalts­am zu überbrücke­n. Beides war aber nicht immer so leicht zur Hand.

Verschwend­ete Zeit? Mitnichten. Denn das Reich der Tagträume erstreckte sich in jener noch nicht allzu fernen Vergangenh­eit in schier unendliche Weiten – Raum für Gedanken an das, was war, und an das, was vielleicht sein könnte. Wer sich langweilt, beschäftig­t sich mit seiner Vergangenh­eit oder mit seiner Zukunft. Beides kann durchaus Früchte tragen. Zumindest hört die Zeit auf, ein Feind zu sein. Keiner hat das so schön in Worte gefasst wie Walter Benjamin: „Wenn der Schlaf der Höhepunkt der körperlich­en Entspannun­g ist, so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.“

Anderersei­ts: Wenn es gar keine Ziele mehr gäbe, würden wir auch das Warten in Wahrheit wohl schmerzlic­h vermissen. Dann würde es vermutlich allen todlangwei­lig. Kaum vorstellba­r, außer für Woody Allen natürlich, der es einmal so ausgedrück­t hat: „Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.“

Mindestens 374 Tage eines Lebens gehen statistisc­hen Berechnung­en zufolge nur mit Warten dahin

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