Leben gemeistert, Paralympics im Blick
Für Para-Boccia-Spielerin Anita Raguwaran aus Dudweiler steht das entscheidende Qualifikations-Turnier in Portugal an.
Es hat manchmal ein bisschen was von Heavy Metal, wenn sich Anita Raguwaran ihrem Sport hingibt. Die 33-Jährige leidet an Muskeldystrophie, einem Gendefekt, der ihre Muskulatur schwinden lässt. Seit ihrem 25. Lebensjahr ist Raguwaran auf den Rollstuhl angewiesen. Zu dieser Zeit entdeckte sie auch den Para-Boccia-Sport für sich, einen Ableger der italienischen Variante des Boule-Spiels, der seit 1984 bei den Paralympischen Spielen im Programm steht. Wenn Raguwaran in ihrem Rollstuhl den Spielball schwingt, fallen ihre langen dunklen Haare über ihr Gesicht – es wirkt dann ein wenig so, als würde sie „headbangen“, wie das rhythmische Bewegen des Kopfes im Bereich der Rockmusik genannt wird.
Für Außenstehende scheint es, als ob sie in dem Moment gar nicht viel sieht. Doch Raguwaran hat ihr Ziel ganz genau vor Augen. Das ist nicht nur in den einzelnen Trainingseinheiten am Saarbrücker Sportcampus der Fall, sondern auch übergeordnet zu sehen. Sie möchte das nachholen, was ihr vor drei Jahren, als die wegen eines Dopingfalls eigentlich ausgeschlossenen Russen zu Ungunsten Raguwarans im letzten Moment doch nach Tokio durften, vergönnt geblieben war. Sie möchte zu den Paralympics nach Paris – und die Entscheidung darüber fällt bei einem einzigen Turnier.
In dieser Woche geht es für Raguwaran und ihren Teamkollegen beim Behinderten- und RehabilitationsSport (BRS) Gersweiler, den bereits für die Paralympics qualifizierten
St. Ingberter Boris Nicolai, zum entscheidenden Qualifikations-Event nach Coimbra in Portugal. „Dort müssen wir unter die besten Drei kommen, um uns für den Doppelwettbewerb in Paris zu qualifizieren. Dann wäre ich auch im Einzel qualifiziert – in diesem Turnier zählt es für uns“, blickt Raguwaran gespannt voraus: „Wir sind ziemlich optimistisch. Wenn wir einen guten Tag erwischen, können wir das schaffen.“
Einen ihrer sportlich besten Tage erlebte Raguwaran, die mit anderthalb Jahren mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg auf Sri Lanka flüchtete und ins Saarland kam, im Mai 2022 gemeinsam mit Nicolai. Beim Weltcup in Rio de Janeiro holte das saarländische Duo sensationell die Goldmedaille, schrieb damit Geschichte. „Im Doppel war das mein größter Erfolg“, sagt die in Dudweiler wohnhafte Ärztin, die aktuell als Assistenz der Radiologie im Knappschaftsklinikum Püttlingen arbeitet und Ende des Jahres ihren Facharzt macht. „Im Einzel war der zweite Platz 2022 beim internationalen Turnier in Rom mein schönstes Erlebnis“, erzählt Raguwaran, die beruflich immer wusste, dass sie gerne Ärztin werden würde. „Ich hatte von klein auf diesen Wunsch. Ich weiß noch, wie ich als Kind immer mit meinem kleinen Arztkoffer rumgelaufen bin. Der Wunsch hat sich immer weiter verfestigt, nach dem Abitur habe ich mir dann gesagt: Ich probiere es einfach“– und trotz der Einschränkungen, die sie ob ihrer Krankheit täglich begleiten, ist sie ihren Weg gegangen.
Sie habe schnell gelernt, sich damit zu arrangieren, sagt Raguwaran, deren Eltern und ihr kleiner Bruder keine Beeinträchtigungen haben. Anfangs war sie noch „ganz normale Fußgängerin“. Dann verschlechterte sich ihre Muskelkraft immer mehr – doch Raguwaran ließ sich nicht beirren. „Es gibt natürlich auch bei mir mal schlechte Tage, an denen man aus diversen Gründen nicht gut drauf ist“, sagt sie: „Aber ich habe mich auf die Krankheit ganz gut einstellen können, habe immer gewusst, dass es irgendwann so kommt, dass ich im Rollstuhl sitze und konnte mein Leben danach ausrichten.“Sie habe die Umstände immer akzeptiert und immer versucht, für sich das Beste daraus zu machen – mit Erfolg, wie sie betont: „Ich hatte nie das Gefühl, dass ich nicht alles machen konnte.“
Nur in Bezug auf Sport war das lange anders. „Sport war nie wirklich für mich drin. Sport war eigentlich abgeschrieben“, sagt Raguwaran: „Aber durch Boccia wurde der Ehrgeiz wieder geweckt.“Zum Boccia kam sie Ende 2015 durch Zufall, weil sie bei einem Reha-Aufenthalt in einer Klinik Boris Nicolai kennenlernte – nicht im Saarland, sondern im entfernten Göttingen. „Wie es halt oft so ist: Saarländer ziehen sich an“, erinnert sich Raguwaran mit einem Lächeln auf den Lippen: „Es war eine glückliche Fügung.“
Dass sie ein Händchen für Boccia hat, wurde rasch klar. Worauf es dabei ankommt? „Es ist in erster Linie Kopfsache. Man muss einfach ruhig bleiben und darf sich nicht irgendwie ablenken lassen, sonst verwirft man auch einen Ball, den man eigentlich schon tausend Mal so gespielt hat“, sagt Raguwaran.
Aufgrund ihrer Erkrankung sind es nicht zuletzt auch privat viele Routinen, die sie über ihren Tag begleiten. „Es ist schon eine andere Welt, ich muss halt auf manche Sachen eher achten als Normalsterbliche. Wenn ich zum Beispiel verschlafe, schaffe ich es nicht, mal eben in fünf Minuten fertig zu sein“, erläutert Raguwaran. Es dauert manches einfach etwas länger. Die Beantwortung der Frage, ob sie es diesmal zu den Paralympics schafft, lässt derweil nicht mehr lange auf sich warten – schon sehr bald ist klar, ob Anita Raguwaran im Sommer in Paris ihr Haar fliegen lässt und sich vielleicht sogar zu einer Medaille „rockt“.
„Sport war nie wirklich für mich drin. Sport war eigentlich abgeschrieben.“Anita Raguwaran saarländische Paralympics-Hoffnung