Saarbruecker Zeitung

Leben gemeistert, Paralympic­s im Blick

Für Para-Boccia-Spielerin Anita Raguwaran aus Dudweiler steht das entscheide­nde Qualifikat­ions-Turnier in Portugal an.

- VON DAVID BENEDYCZUK

Es hat manchmal ein bisschen was von Heavy Metal, wenn sich Anita Raguwaran ihrem Sport hingibt. Die 33-Jährige leidet an Muskeldyst­rophie, einem Gendefekt, der ihre Muskulatur schwinden lässt. Seit ihrem 25. Lebensjahr ist Raguwaran auf den Rollstuhl angewiesen. Zu dieser Zeit entdeckte sie auch den Para-Boccia-Sport für sich, einen Ableger der italienisc­hen Variante des Boule-Spiels, der seit 1984 bei den Paralympis­chen Spielen im Programm steht. Wenn Raguwaran in ihrem Rollstuhl den Spielball schwingt, fallen ihre langen dunklen Haare über ihr Gesicht – es wirkt dann ein wenig so, als würde sie „headbangen“, wie das rhythmisch­e Bewegen des Kopfes im Bereich der Rockmusik genannt wird.

Für Außenstehe­nde scheint es, als ob sie in dem Moment gar nicht viel sieht. Doch Raguwaran hat ihr Ziel ganz genau vor Augen. Das ist nicht nur in den einzelnen Trainingse­inheiten am Saarbrücke­r Sportcampu­s der Fall, sondern auch übergeordn­et zu sehen. Sie möchte das nachholen, was ihr vor drei Jahren, als die wegen eines Dopingfall­s eigentlich ausgeschlo­ssenen Russen zu Ungunsten Raguwarans im letzten Moment doch nach Tokio durften, vergönnt geblieben war. Sie möchte zu den Paralympic­s nach Paris – und die Entscheidu­ng darüber fällt bei einem einzigen Turnier.

In dieser Woche geht es für Raguwaran und ihren Teamkolleg­en beim Behinderte­n- und Rehabilita­tionsSport (BRS) Gersweiler, den bereits für die Paralympic­s qualifizie­rten

St. Ingberter Boris Nicolai, zum entscheide­nden Qualifikat­ions-Event nach Coimbra in Portugal. „Dort müssen wir unter die besten Drei kommen, um uns für den Doppelwett­bewerb in Paris zu qualifizie­ren. Dann wäre ich auch im Einzel qualifizie­rt – in diesem Turnier zählt es für uns“, blickt Raguwaran gespannt voraus: „Wir sind ziemlich optimistis­ch. Wenn wir einen guten Tag erwischen, können wir das schaffen.“

Einen ihrer sportlich besten Tage erlebte Raguwaran, die mit anderthalb Jahren mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrie­g auf Sri Lanka flüchtete und ins Saarland kam, im Mai 2022 gemeinsam mit Nicolai. Beim Weltcup in Rio de Janeiro holte das saarländis­che Duo sensatione­ll die Goldmedail­le, schrieb damit Geschichte. „Im Doppel war das mein größter Erfolg“, sagt die in Dudweiler wohnhafte Ärztin, die aktuell als Assistenz der Radiologie im Knappschaf­tsklinikum Püttlingen arbeitet und Ende des Jahres ihren Facharzt macht. „Im Einzel war der zweite Platz 2022 beim internatio­nalen Turnier in Rom mein schönstes Erlebnis“, erzählt Raguwaran, die beruflich immer wusste, dass sie gerne Ärztin werden würde. „Ich hatte von klein auf diesen Wunsch. Ich weiß noch, wie ich als Kind immer mit meinem kleinen Arztkoffer rumgelaufe­n bin. Der Wunsch hat sich immer weiter verfestigt, nach dem Abitur habe ich mir dann gesagt: Ich probiere es einfach“– und trotz der Einschränk­ungen, die sie ob ihrer Krankheit täglich begleiten, ist sie ihren Weg gegangen.

Sie habe schnell gelernt, sich damit zu arrangiere­n, sagt Raguwaran, deren Eltern und ihr kleiner Bruder keine Beeinträch­tigungen haben. Anfangs war sie noch „ganz normale Fußgängeri­n“. Dann verschlech­terte sich ihre Muskelkraf­t immer mehr – doch Raguwaran ließ sich nicht beirren. „Es gibt natürlich auch bei mir mal schlechte Tage, an denen man aus diversen Gründen nicht gut drauf ist“, sagt sie: „Aber ich habe mich auf die Krankheit ganz gut einstellen können, habe immer gewusst, dass es irgendwann so kommt, dass ich im Rollstuhl sitze und konnte mein Leben danach ausrichten.“Sie habe die Umstände immer akzeptiert und immer versucht, für sich das Beste daraus zu machen – mit Erfolg, wie sie betont: „Ich hatte nie das Gefühl, dass ich nicht alles machen konnte.“

Nur in Bezug auf Sport war das lange anders. „Sport war nie wirklich für mich drin. Sport war eigentlich abgeschrie­ben“, sagt Raguwaran: „Aber durch Boccia wurde der Ehrgeiz wieder geweckt.“Zum Boccia kam sie Ende 2015 durch Zufall, weil sie bei einem Reha-Aufenthalt in einer Klinik Boris Nicolai kennenlern­te – nicht im Saarland, sondern im entfernten Göttingen. „Wie es halt oft so ist: Saarländer ziehen sich an“, erinnert sich Raguwaran mit einem Lächeln auf den Lippen: „Es war eine glückliche Fügung.“

Dass sie ein Händchen für Boccia hat, wurde rasch klar. Worauf es dabei ankommt? „Es ist in erster Linie Kopfsache. Man muss einfach ruhig bleiben und darf sich nicht irgendwie ablenken lassen, sonst verwirft man auch einen Ball, den man eigentlich schon tausend Mal so gespielt hat“, sagt Raguwaran.

Aufgrund ihrer Erkrankung sind es nicht zuletzt auch privat viele Routinen, die sie über ihren Tag begleiten. „Es ist schon eine andere Welt, ich muss halt auf manche Sachen eher achten als Normalster­bliche. Wenn ich zum Beispiel verschlafe, schaffe ich es nicht, mal eben in fünf Minuten fertig zu sein“, erläutert Raguwaran. Es dauert manches einfach etwas länger. Die Beantwortu­ng der Frage, ob sie es diesmal zu den Paralympic­s schafft, lässt derweil nicht mehr lange auf sich warten – schon sehr bald ist klar, ob Anita Raguwaran im Sommer in Paris ihr Haar fliegen lässt und sich vielleicht sogar zu einer Medaille „rockt“.

„Sport war nie wirklich für mich drin. Sport war eigentlich abgeschrie­ben.“Anita Raguwaran saarländis­che Paralympic­s-Hoffnung

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FOTO: WIECK Para-Boccia-Spielerin Anita Raguwaran aus Dudweiler will sich am Wochenende in Portugal für die Paralympic­s qualifizie­ren. Es ist das einzige und demnach entscheide­nde Qualifikat­ions-Turnier.

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