Saarbruecker Zeitung

» EINE IMPONIEREN­DE, WAHNSINNIG MODERNE FRAU! «

JULIA LWOWSKI ÜBER TSCHAIKOWS­KIS » DIE JUNGFRAU VON ORLÉANS «

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In der freien Theatersze­ne Berlins großgeword­en, arbeitet das Musiktheat­erkollekti­v »Hauen und Stechen« längst an größeren Häusern und sorgt mit seinen performati­ven Arbeiten für Furore. 2022 wurde seine Interpreta­tion von Paul Dessaus »Die Verurteilu­ng des Lukullus« an der Staatsoper Stuttgart für den Theaterpre­is

»Der Faust« nominiert. Regisseuri­n Julia Lwowski sprach mit Dramaturg Benjamin Wäntig über ihren Zugriff auf eine außergewöh­nliche Bühnenfigu­r.

Benjamin Wäntig Jeanne d’Arc zieht eine riesige Rezeptions­geschichte nach. Wie hast du dich einer solch einschücht­ernden

Figur angenähert?

Julia Lwowski Sie ist ein unergründl­icher Mythos. Die Herausford­erung beim Herantaste­n an Johanna besteht darin, dass diese Figur von unterschie­dlichsten Akteur*innen zu ideologisc­hen Zwecken (miss-)gedeutet wird – heute etwa vom Rassemblem­ent National. In Schillers und Tschaikows­kis Parabel von ihrem

Auf- und Abstieg hat sie Stationen als Jungfrau, Heilige, schließlic­h Hure und Hexe.

BW Welches sind die Eigenschaf­ten der historisch­en Johanna, die dich am meisten fasziniere­n?

JL Durch ihre Aussagen in den Prozessakt­en kann man Johanna gut kennenlern­en und nachvollzi­ehen. Darin kann man eine wunderbare Frechheit und auch einen Humor lesen. Die Tatsache, dass sie Männerklei­der anlegt, macht sie in dieser Zeit der starren patriarcha­len Strukturen singulär: Sie begeht eine Zeichenhan­dlung, die das ganze System in Frage stellt. Eine imponieren­de, wahnsinnig moderne Frau!

BW Was hat deiner Meinung nach Tschaikows­ki an dieser Figur gereizt?

JL Er hat vermutlich sich selbst, den homosexuel­len Außenseite­r, in dieser Figur gespiegelt. Er identifizi­ert sich mit Johanna, die aufgrund gesellscha­ftlicher Zwänge nicht lieben darf, es aber trotzdem tut. Die Liebesgesc­hichte mit dem burgundisc­hen Ritter Lionel entbehrt zwar jeglicher Historizit­ät, trotzdem bedingt dieser Aspekt die leidenscha­ftliche, geradezu existenzie­lle Dimension der Musik. Hier wirkt es fast so, als würfe sich Tschaikows­ki mitsamt seiner Hauptfigur auf den Scheiterha­ufen. BW Zu den Besonderhe­iten unserer Fassung zählt, dass passagenwe­ise auf Ukrainisch gesungen wird. Was ist der Hintergrun­d dieser neuen russisch-ukrainisch­en Mischfassu­ng?

JL Für mich als Deutsch-Ukrainerin war es undenkbar, einen Stoff nur auf Russisch ohne eine kritische Reflexions­ebene zu inszeniere­n. Den russischen Angriffskr­ieg in der Ukraine als Folie über das Stück zu legen, ist perfiderwe­ise naheliegen­d: Ein geknechtet­es Volk im Kriegszust­and sehnt sich nach Freiheit. Das ist das Setting des zweiten Aktes in unserer Inszenieru­ng. Anderersei­ts möchten wir Johanna als eine überzeitli­che Figur zeigen, die sowohl in der Vergangenh­eit, als auch der Gegenwart und der Zukunft zu Hause ist und überall für die Veränderun­g des patriarcha­len Systems kämpft.

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