Saarbruecker Zeitung

Der Terror kehrt nach Moskau zurück

Russland trauert um die Toten eines mörderisch­en Anschlags. Doch die Deutungen des Geschehens laufen zwischen Moskau und dem Westen weit auseinande­r.

- VON FRIEDEMANN KOHLER, HANNAH WAGNER UND ULF MAUDER

(dpa/afp) Nach einem der schwersten Terroransc­hläge in der russischen Geschichte hat die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) die Tat mit fast 140 Toten und 150 Verletzten für sich reklamiert und mehrere Bekennersc­hreiben veröffentl­icht. Dennoch will Russland eine Verwicklun­g der Ukraine sehen, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren einen Angriffskr­ieg führt.

Nach Angaben des russischen Präsidente­n Wladimir Putin wollten die Täter in die Ukraine flüchten, Beweise dafür legte er aber nicht vor. Kiew wies jede Beteiligun­g an der Tat von Freitagabe­nd zurück. Auch die USVizepräs­identin Kamala Harris sieht für eine ukrainisch­e Beteiligun­g „keinerlei Beweise“.

Unterdesse­n beging Russland am Sonntag einen nationalen Trauertag. „Wer sich retten konnte, hat Glück gehabt“, sagte ein Mann am Sonntag am Ort des schlimmste­n Terroransc­hlags in Russland seit Jahren. Er selbst gehöre zu diesen Glückliche­n, erzählte er der Nachrichte­nagentur Tass. Zwei Tage zuvor hatten vier Bewaffnete in der Konzerthal­le Crocus City Hall bei Moskau um sich geschossen und das Gebäude in Brand gesetzt. Die Menschen flüchteten in Panik.

Putin sprach in einer vom Staatsfern­sehen übertragen­en Rede am Samstagnac­hmittag von einer angebliche­n Spur in die Ukraine. Mit Blick auf die festgenomm­enen Verdächtig­en sagte er: „Sie haben versucht, sich zu verstecken und haben sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübert­ritt vorbereite­t worden war.“Der ukrainisch­e Militärgeh­eimdienst konterte, die Grenze sei seit langem vermint.

Die vier Männer wurden am Wochenende im russischen Grenzgebie­t Brjansk festgenomm­en und nach Moskau gebracht. Insgesamt gab es nach Behördenan­gaben elf Festnahmen. Am Sonntagabe­nd dann wurden die ersten beiden Verdächtig­en einem Gericht in der russischen Hauptstadt Moskau vorgeführt. Wie die Nachrichte­nagentur Tass berichtete, wurden die beiden Männer vom Gericht des Bezirks Basmanni formell der Beteiligun­g an einem terroristi­schen Angriff beschuldig­t. Ihnen drohen demnach lebenslang­e Haftstrafe­n.

Die Geheimdien­ste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag in Moskau gewarnt. Putin tat diese Warnungen aber als westliche Provokatio­n ab.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj wies jede Verwicklun­g seines Landes in den Anschlag zurück. Auch die USA erklärten, dass es dafür keinerlei Hinweise gebe. Die Sprecherin des russischen Außenminis­teriums, Maria Sacharowa sagte hingegen, es sei vorschnell, die Ukraine zu entlasten.

Der IS-Propaganda­kanal Amak veröffentl­ichte hingegen als angebliche­n Beweis, für den Angriff verantwort­lich zu sein, ein Video, das die Attentäter am Anschlagso­rt zeigen soll. Zudem wurde ein Bild der angebliche­n Attentäter gezeigt, deren Gesichter unkenntlic­h gemacht worden waren. Die Kämpfer hätten bewaffnet mit Sturmgeweh­ren, Pistolen und Bomben Russland einen „schweren Schlag“versetzt, hieß es in der Mitteilung. Der Angriff habe „Tausenden Christen in einer Musikhalle“gegolten. Der IS bekämpft Anhänger des Christentu­ms und betrachtet sie als Ungläubige. Terrorismu­sexperten stuften das Bekennersc­hreiben als glaubwürdi­g ein.

Die in Russland festgenomm­enen Männer ähnelten in einigen Merkmalen den Männern in dem Amak-Video wie den gefilmten Schützen vom Tatort. In den kommenden Tagen soll vor Gericht ein Haftbefehl gegen sie beantragt werden. Videoaufna­hmen zeigen, dass es bei der Festnahme

auch zu Folter gekommen sein soll. So zeigt ein Video, wie einem Mann ein Ohr abgeschnit­ten wurde. Unabhängig waren die Aufnahmen zunächst nicht zu überprüfen.

Unterdesse­n wurde in Russland weiter befürchtet, dass in der ausgebrann­ten Ruine des riesigen Veranstalt­ungszentru­ms am Stadtrand von Moskau noch weitere Opfer gefunden werden. Die Bergungsar­beiten gingen rund um die Uhr weiter, hieß es von den Behörden. Viele Menschen in der Konzerthal­le seien bis zur Unkenntlic­hkeit verbrannt. Knapp 4000 Menschen spendeten bis zum Abend Blut, um die ärztliche Behandlung der Verletzten zu erleichter­n.

Am Zaun vor dem abgeriegel­ten Gelände standen am Sonntag Hunderte trauernde Menschen Schlange, um Blumen an einem improvisie­rten Gedenkort niederzule­gen.

In dem großen Konzertsaa­l hätte am Freitag die russische Rockgruppe Piknik auftreten sollen. Auch eine vermisste Assistenti­n der Band wurde tot gefunden. Als die bewaffnete­n Angreifer den Saal stürmten, habe sie gerade mit ihrem Mann auf einer der oberen Besuchertr­ibünen gestanden, erzählte eine Augenzeugi­n. „Wir wollten ein Erinnerung­sfoto machen.“Erst habe sie die Explosions­geräusche für lauten Begrüßungs­applaus für die Künstler gehalten, erinnert sie sich. „Aber es knallte weiter. Da habe ich sofort verstanden, dass etwas nicht stimmt.“

Der ukrainisch­e Präsident Selenskyj wies die Versuche Putins zurück, mit unbelegten Schuldzuwe­isungen der Ukraine eine Mitverantw­ortung zuzuschieb­en. „Nach dem, was gestern in Moskau passiert ist, versuchen Putin und die anderen Bastarde natürlich nur, jemand anderem die

Schuld in die Schuhe zu schieben“, sagte Selenskyj am Samstag in seiner Videoanspr­ache. Nach dem Anschlag habe „dieser absolute Niemand Putin“einen Tag lang geschwiege­n, anstatt sich um seine russischen Bürger zu kümmern. Vielmehr habe Putin darüber nachgedach­t, „wie er das in die Ukraine bringen kann“.

2002 hatte ein Terroransc­hlag Moskau in Schrecken versetzt, der ähnlich begann wie jetzt in der Crocus City Hall: Tschetsche­nische Bewaffnete stürmten ein Musicalthe­ater; am Ende kamen 135 Geiseln ums Leben. Auch danach gab es Anfang der 2000er Jahre noch Bombenansc­hläge in Moskau.

Beim bislang folgenschw­ersten Terroransc­hlag in Russland, der Geiselnahm­e in der Schule von Beslan 2004, wurden mehr als 330 Menschen getötet. Die Mehrzahl von ihnen waren Kinder.

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FOTO: INVESTIGAT­IVE COMMITTEE OF RUSSIA/AP/DPA Ein Mitarbeite­r des russischen Ermittlung­skomitees untersucht die verkohlten Überbleibs­el des Tatorts. Das Innere der „Crocus City Hall“wurde bei dem Anschlag mit mehr als 130 Toten zerstört.

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