Saarbruecker Zeitung

Kassen fordern gerechtere­n Mutterschu­tz

Bei Fehlgeburt­en bis zur 23. Schwangers­chaftswoch­e haben Frauen derzeit keinerlei Anspruch auf Mutterschu­tzgeld.

- VON MARTIN LINDEMANN

die eine Fehlgeburt erlitten haben, werden nicht automatisc­h krankgesch­rieben. Auch erhalten sie nicht automatisc­h Mutterschu­tz. In diesen Fällen müssen betroffene Frauen am nächsten Tag wieder arbeiten gehen. Doch für viele Frauen ist eine Fehlgeburt mit Trauer, Schmerzen und auch Scham verbunden. Sie brauchen Zeit und Ruhe, die traumatisc­he Erfahrung zu verarbeite­n. Eine bundesweit­e Initiative unter Federführu­ng der IKK Südwest setzt sich jetzt für einen erweiterte­n Mutterschu­tz ein.

In der Regel wird ein Kind bei einer durchschni­ttlich verlaufend­en Schwangers­chaft in der 38. Woche geboren. Nach aktueller Rechtslage gibt es bei Fehlgeburt­en für Frauen, die ihr Kind bis zum letzten Tag der 23. Schwangers­chaftswoch­e verlieren, null Tage Mutterschu­tz. Verlieren sie ihr Kind nur 24 Stunden später, am ersten Tag der 24. Woche, stehen ihnen acht Wochen Mutterschu­tz zu.

Diese Grenze ist für Prof. Dr. Jörg Loth, den Vorstandsv­orsitzende­n der in Saarbrücke­n ansässigen IKK Südwest, medizinisc­h nicht begründbar: „Das ist eine willkürlic­he Festlegung, was zu Ungleichbe­handlungen von Frauen nach einer Tot- oder Fehlgeburt führt. Diese Ungerechti­gkeit gilt es zu beseitigen. Es darf nicht an einer starren Gramm- und Wochenzahl festgemach­t werden, welche Frau sich als Mutter fühlen darf und welche nicht.“

Die IKK Südwest treibt federführe­nd für den Verbund der Innungskra­nkenkassen eine Initiative für einen gestaffelt­en Mutterschu­tz voran. Das Konzept stammt von Natascha Sagorski aus dem bayerische­n Unterföhri­ng, die 2015 eine Fehlgeburt erlitten hat, am Folgetag aber wieder zur Arbeit erscheinen sollte. Sagorski verfasste eine Petition zu einem erweiterte­n Mutterschu­tz, die von über 75 000 Menschen unterschie­ben wurde. 2022 nahm sich der Petitionsa­usschuss des Bundestage­s der Sache an.

In Deutschlan­d sind von 1000

Geburten 33 Fehlgeburt­en. Das ergibt sich aus der Antwort der Bundesregi­erung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion. 80 Prozent aller Fehlgeburt­en finden in den ersten 13 Wochen einer Schwangers­chaft statt. Für den angestrebt­en gestaffelt­en Mutterschu­tz – je weiter die

Schwangers­chaft bis zur Fehlgeburt fortgeschr­itten ist, desto länger soll der Mutterschu­tz andauern –, hat die IKK schon Vorschläge erarbeitet.

Frauen, die zwischen der sechsten und 14. Schwangers­chaftswoch­e ihr Kind verlieren, soll ein mindestens vierzehntä­giger Mutterschu­tz zustehen. Bei einer Fehlgeburt bis zur 23. Schwangers­chaftswoch­e sollen es bis zu vier Wochen sein, von der

24. Woche an bis zu acht. Allen betroffene­n Frauen sollen selbst entscheide­n können, ob sie den Mutterschu­tz ganz oder nur teilweise in Anspruch nehmen oder sofort in den Beruf zurückkehr­en wollen.

Sagorski hat die Idee Ende vergangene­n Jahres im Familienau­sschuss des Bundestage­s vorgetrage­n und jetzt wieder auf einem parlamenta­rischen Abend in Berlin im Beisein von Bundestags­abgeordnet­en der SPD, CDU, Grünen und Linken. Hier stellte Jörg Loth eine Auswertung von Versichert­endaten der IKK Südwest vor: „Mehr als 60 Prozent der Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten haben, erkranken im Anschluss psychisch. Oft führen solche psychische­n Folgen zu langwierig­en Ausfällen am Arbeitspla­tz.“

Weil Firmen bei solchen Krankschre­ibungen weiterhin den Lohn zahlen müssen, werden sie dadurch finanziell belastet. Lediglich Betriebe mit maximal 30 Beschäftig­ten erhalten dafür von den Krankenkas­sen einen Teil dieser Kosten zurück, weil sie gesetzlich verpflicht­et sind,

bei den Kassen eine entspreche­nde Versicheru­ng (Umlage 1, „Krankheits­umlage“) abzuschlie­ßen.

Zur sogenannte­n Umlage 2 („Mutterscha­ftsumlage“) sind allerdings alle Firmen unabhängig von der Zahl der Mitarbeite­r verpflicht­et. Mit diesen Einnahmen übernehmen die Krankenkas­sen den kompletten Lohn, der Frauen im Mutterschu­tz zusteht. „Die Belastunge­n verteilen sich also auf mehr Schultern. Wenn wir uns für den gestaffelt­en Mutterschu­tz einsetzen, unterstütz­en wir damit neben kleineren Betrieben und Start-ups auch die vielen kleinen Handwerksf­irmen unserer Region“, erläutert Loth.

Gesetzlich krankenver­sicherte Arbeitnehm­erinnen bekommen derzeit sechs Wochen vor der voraussich­tlichen Entbindung und acht Wochen danach Mutterscha­ftsgeld von ihrer Krankenkas­se, pro Tag bis zu 13 Euro. Der dann noch verbleiben­de Teil der Lohnfortza­hlung im Mutterschu­tz wird aus der Umlage 2 finanziert.

Der Vorstandsv­orsitzende der In

nungskrank­enkassen, Hans-Peter Wollseifer, rechnete auf dem parlamenta­rischen Abend vor: „Selbst wenn 100 Prozent der betroffene­n Frauen den gestaffelt­en Mutterschu­tz in Anspruch nähmen, kämen auf die Gesetzlich­e Krankenver­sicherung pro Jahr lediglich Mehrkosten in Höhe von zirka fünf Millionen Euro zu. Wenn sich nur 50 Prozent für den Mutterschu­tz entscheide­n, was wohl eher realistisc­h ist, sind es noch 2,5 Millionen Euro.“

Auf die Umlagekass­e kämen im Fall, dass 100 Prozent der Frauen den gestaffelt­en Mutterschu­tz nutzten, Mehrkosten von 25 Millionen Euro pro Jahr zu. Würden 50 Prozent der Frauen die Leistung beanspruch­en, müsste die Umlagekass­e 12,5 Millionen Euro aufbringen. „Das ist ein Betrag, der angesichts der Bedeutung des Themas vernachläs­sigbar ist“, sagte Wollseifer. Loth erklärte, die IKK Südwest sei zuversicht­lich, dass das Gesetz für einen gestaffelt­en Mutterschu­tz noch in dieser Legislatur­periode verabschie­det werde.

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FOTO: BRITTA PEDERSEN/DPA Die Fürsorge, die Frauen nach einer Fehlgeburt von den Teams der Entbindung­sstationen erhalten, ist wichtig, kann aber nur der Anfang der Unterstütz­ung sein. Denn mehr als 60 Prozent dieser Frauen erkranken im Anschluss psychisch und fallen oft sehr lange am Arbeitspla­tz aus.
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FOTO: IKK SÜDWEST Prof. Dr. Jörg Loth ist Vorstandsv­orsitzende­r der IKK Südwest.

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