Saarbruecker Zeitung

Wohnheim für Autisten wird zehn Jahre alt

Ein Tag mit besonders festen Strukturen. – Zu Besuch in einer ungewöhnli­chen Wohngemein­schaft des Saarländis­chen Schwestern­verbandes.

- VON THOMAS ANNEN

Eine ungewöhnli­che Wohngemein­schaft ging vor zehn Jahren am Ortsrand von Heusweiler an den Start. In der Einrichtun­g des Saarländis­chen Schwestern­verbandes leben 17 erwachsene Menschen mit Autismus. Es gibt vier Gruppen mit jeweils vier Bewohnern, eine der Gruppen besteht ausschließ­lich aus Frauen. Hinzu kommt ein Kurzzeitpf­legeplatz. „Die Nachfrage ist groß“, erklärt Einrichtun­gsleiter Andreas Schackmar. Alle Plätze sind belegt.

Die Hälfte der Männer und Frauen ist während unseres Besuchs am Vormittag außer Haus: Einige arbeiten in Werkstätte­n, andere werden in Tagesförde­rstätten betreut. Die Bewohner, die daheim bleiben, sind ebenfalls beschäftig­t. Sie sortieren Schrauben, backen Waffeln oder feilen an den Holzflügel­n einer Engelsfigu­r. Theoretisc­h könnten sie auch außerhalb des Hauses einer Tätigkeit nachgehen. In der Praxis würde sie die Fahrt zur Arbeitsstä­tte allerdings überforder­n. „Sie haben große Schwierigk­eiten mit Übergangss­ituationen“, erläutert Andreas Schackmar. Denn die anderen Fahrgäste, die Geräusche im Auto, die Eindrücke beim Blick aus

dem Fenster – das alles würde Stress verursache­n. Wobei die durch den Autismus bedingte Schwelle, bei der Reize zum Problem werden, individuel­l verschiede­n ist.

Das sieht man auch an den sehr

unterschie­dlich gestaltete­n Einzelzimm­ern. Einige der Bewohner richten sich gemütlich ein, andere fühlen sich am wohlsten, wenn die Wände kahl bleiben und außer dem Bett fast kein Möbelstück im Raum steht. „Sie kommen nicht zur Ruhe, wenn sie mit zu vielen Reizen konfrontie­rt werden“, sagt Schackmar.

Ist eine bestimmte Grenze überschrit­ten, werden die Bewohner aggressiv, beginnen zu schreien oder ziehen sich zurück. Dann dauert es lange, bis sie sich wieder beruhigen. Ein strukturie­rter Tagesablau­f ist für die hier lebenden Autisten wichtig. Er wird für jeden individuel­l entwickelt. Bildkarten helfen bei der Orientieru­ng: Sie zeigen, was als Nächstes ansteht – Arbeit, Essen, Pause. Außer den Einzelzimm­ern gibt es jeweils einen Gruppenrau­m mit Sitzecke, Fernseher und Küche. Wenn die Bewohner beim Frühstück gemeinsam am Tisch sitzen, sprechen sie nicht miteinande­r. Es kommt auch nicht vor, dass sie sich verabreden, gemeinsam einen Film

zu schauen. Oder dass sie einem Mitbewohne­r ihre Lebensgesc­hichte erzählen. Einige können nicht reden, andere sind taubstumm. Das erschwert natürlich auch die Kommunikat­ion mit dem Betreuerte­am. Die Fachkräfte haben aber gelernt, das Verhalten der Bewohner zu deuten. Und so auf deren Bedürfniss­e zu schließen.

„Beobachtun­g ist das A und O“, sagt Pflegedien­stleiterin Claudia Wagner. Sie erzählt von einer Bewohnerin, die manchmal beim Lachen die Zähne zeigt. Das bedeute allerdings nicht, dass sie sich wohl fühlt. Im Gegenteil: Der Gesichtsau­sdruck zeige Anspannung.

Menschen mit entspreche­nd starken Ausprägung­en von Autismus wollen wissen, was auf sie zukommt, sie mögen keine Überraschu­ngen. Ausflüge, die die tägliche Routine durchbrech­en, müssen deshalb gut vorbereit sein. Beim Besuch eines Cafés geht ein Betreuer deshalb schon mal voraus, um die Bestellung aufzugeben. Damit die Getränke

beim Eintreffen der Gruppe bereits auf dem Tisch stehen. Die Autisten möchten sich hinsetzen, ihren Kaffee trinken und dann wieder gehen. Warten hingegen verursacht Stress.

Fast alle leben seit dem Start der

Wohngemein­schaft im Haus. „Mir gefällt es hier gut“, erzählt Bewohnerin Karin. Während der Arbeitszei­t faltet sie Wäsche und sortiert Schrauben. Aber am liebsten, verrät Karin, faulenze sie in ihrem Zimmer.

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FOTO: ANDREAS ENGEL Das Leitungste­am (von links): Aline Schwambach, Andreas Schackmar und Claudia Wagner.
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FOTO: ANDREAS ENGEL Bewohner Christoph (rechts) gemeinsam mit der Betreuungs­fachkraft Joshua Schäfer beim Arbeiten in der Küche.
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FOTO: ANDREAS ENGEL Seit zehn Jahren leben Autisten in einem Haus des Schwestern­verbandes Saar in Heusweiler. Lukas weiß sich zu beschäftig­en.

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