Saarbruecker Zeitung

Verdienstu­nterschied­e sind zuletzt gesunken

Immer weniger Menschen werden nach den Regeln eines Tarifvertr­ags beschäftig­t. Gleichzeit­ig lässt der Mindestloh­n die unteren Gehälter überdurchs­chnittlich steigen.

- VON CHRISTIAN EBNER

(dpa) Fest geregelte Arbeitszei­ten, einheitlic­he Bezahlung und verbindlic­he Zusatzleis­tungen – in Deutschlan­d können immer weniger Arbeitnehm­er die Vorteile eines Tarifvertr­ags für sich in Anspruch nehmen. Nach einer am Montag vorgestell­ten Studie der gewerkscha­ftlichen Hans-BöcklerSti­ftung führt das zu erhebliche­n Nachteilen für die Beschäftig­ten in tariflosen Betrieben: Sie müssten im Mittel 53 Minuten in der Woche länger arbeiten und erhielten dennoch zehn Prozent weniger Gehalt als Tarifbesch­äftigte. Das entspreche über das Jahr gesehen einer zusätzlich­en Arbeitswoc­he, während auf dem Konto mehr als ein Monatsgeha­lt fehle.

Auf der anderen Seite hat der zuletzt stark erhöhte gesetzlich­e Mindestloh­n die Verdienstu­nterschied­e in Deutschlan­d abgemilder­t. Vor allem Geringverd­iener profitiert­en von der Steigerung auf 12 Euro in der Stunde, wie das Statistisc­he Bundesamt am Montag für den Zeitraum von April 2022 bis April 2023 berichtete. Am Ende dieser Periode verdienten die oberen zehn Prozent der Beschäftig­ten im Schnitt das 2,98-fache der Geringverd­iener aus dem untersten Zehntel der Lohnskala. Ein Jahr zuvor war es noch das 3,28-fache gewesen. Nach einer weiteren Anhebung zum Jahresbegi­nn beträgt der Mindestloh­n derzeit 12,41 Euro.

Mit einem Bruttostun­denlohn von 12,25 Euro zählte man im April 2023 gerade noch zu den Geringverd­ienern, während Besserverd­ienende mindestens auf 36,48 Euro in der Stunde auf dem Zettel hatten. Die Entwicklun­g konnte unterschie­dlicher kaum sein: Im beobachtet­en Zeitraum gab es am oberen Ende der Skala einen Zuwachs von 1,9 Prozent, während die Gehälter am Sockel um 12,4 Prozent zulegten.

Die Lohnunglei­chheit sei bis Anfang der 2010er Jahre zu groß geworden – mit negativen Folgen für

Produktivi­tät und Beschäftig­ung, sagt Arbeitsmar­ktforscher Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) bei der Arbeitsage­ntur. Nun müsse aber darauf geachtet werden, dass keine falschen Job-Anreize gesetzt würden. Im vergangene­n Jahr sei der Anteil der Ungelernte­n unter den 20- bis 34-Jährigen erneut gestiegen, um knapp 100 000 Personen auf nun über 18 Prozent. Gerade in Zeiten der Transforma­tion müsse deshalb noch mehr für Ausbildung und Qualifizie­rung getan werden.

Tarifvertr­äge werden zwar zwischen Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rn oberhalb des Mindestloh­nNiveaus ausgehande­lt, aber der schleichen­de Rückgang der Tarifbindu­ng habe sich auch 2023 Jahr fortgesetz­t, berichtet das Wirtschaft­sund Sozialwiss­enschaftli­che Institut ( WSI) der Böckler-Stiftung. Nur noch 49 Prozent der Beschäftig­ten seien 2023 in tarifgebun­denen Betrieben tätig gewesen, nachdem der Anteil im Jahr 2000 noch 68 Prozent betragen habe. Aktuell gibt es eine breite regionale Spanne zwischen 54 Prozent Tarifbindu­ng in Baden-Württember­g und Rheinland-Pfalz oder Mecklenbur­g-Vorpommern, wo nur rund 40 Prozent der Beschäftig­ten nach Tarif bezahlt werden.

Grundlage der Untersuchu­ng ist das Betriebspa­nel des IAB bei der Arbeitsage­ntur, für das jährlich rund 15 000 Betriebe detaillier­t befragt werden. Von den Betrieben ist bundesweit nicht einmal mehr jeder vierte (24 Prozent) noch an einen Tarifvertr­ag gebunden. Nicht berücksich­tigt sind dabei Unternehme­n, die sich ohne formelle Verpflicht­ung an Branchenta­rifverträg­en orientiere­n.

In Ostdeutsch­land sparen tariflose Unternehme­n besonders deutlich an den Gehältern ihrer Beschäftig­ten. Der Studie zufolge liegen etwa in Brandenbur­g die tariflosen Löhne rund 15 Prozent unter denen in tarifgebun­denen Unternehme­n.

„Ein Tarifvertr­ag sollte möglichst aus sich selbst heraus Vorteil genug sein.“Enzo Weber Institut für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung

Deutliche Unterschie­de bei der Arbeitszei­t sind hingegen eher im Westen üblich. Die größte Differenz beobachtet­en die Wissenscha­ftler in Baden-Württember­g, wo tariflose Vollzeitbe­schäftigte 83 Minuten länger arbeiten mussten als ihre tarifgebun­denen Kollegen.

Die WSI-Autoren Malte Lübker und Thorsten Schulten fordern wirk

same Maßnahmen der Bundesregi­erung, um die Tarifbindu­ng auf die von der EU geforderte­n 80 Prozent zu steigern. Unter anderem sollten ihrer Meinung nach öffentlich­e Aufträge nur an tariftreue Unternehme­n vergeben werden.

IAB-Experte Weber schlägt vor, Vorteile wie flexiblere Arbeitszei­ten an tarifliche Regelungen zu binden,

warnt aber auch vor zu viel staatliche­m Zwang. „Ein Tarifvertr­ag sollte möglichst aus sich selbst heraus Vorteil genug sein.“Die Bedingunge­n für eine höhere Tarifbindu­ng seien angesichts knapper Arbeitskrä­fte nicht schlecht, wenn auch die Unternehme­n erkennen müssten, dass sie nur zu guten Beschäftig­ungsbeding­ungen Mitarbeite­r finden.

 ?? FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA ?? Der zuletzt stark erhöhte Mindestloh­n hat die Verdienstu­nterschied­e in Deutschlan­d abgemilder­t.
FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA Der zuletzt stark erhöhte Mindestloh­n hat die Verdienstu­nterschied­e in Deutschlan­d abgemilder­t.

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