„Gewerkschaften verteidigen die Demokratie“
Das Vorstandsmitglied der IG Metall spricht über hohes Arbeitspensum, Anspannung in Betrieben und die Wertigkeit von Arbeit.
Die Bundesregierung müsse das tun, wofür sie gewählt ist: regieren. Stattdessen stünden interne Streitereien im Vordergrund, was mittlerweile die Zukunft des Standorts Deutschland und zahlreiche Arbeitsplätze bedrohe, kritisiert Ralf Reinstädtler, Festredner der Maikundgebung am Saarbrücker Schloss und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, im Interview mit der Saarbrücker Zeitung.
Wie wichtig sind heute noch die Maikundgebungen der Gewerkschaften? Viele Menschen halten diese Tradition für überholt, machen am Feiertag lieber einen Ausflug.
REINSTÄDTLER Nichts gegen Maiausflüge, aber die Menschen auf den Kundgebungen machen sehr deutlich, wie wichtig es in unsicheren Zeiten ist, für den Erhalt von Beschäftigung und für möglichst viele neue Arbeitsplätze zu kämpfen. Dafür haben die Gewerkschaften in ihrer langen Geschichte schon immer einen großen Beitrag geleistet und sind heute gefragter denn je. Zumal sie auch die Demokratie verteidigen. Die Gewerkschaften sind selbst eine Demokratiebewegung. In vielen Ländern der Erde werden Gewerkschafter noch verfolgt, weil sie sich für Freiheit, Selbstbestimmung und freie Meinungsäußerung einsetzen.
Warum müssen sich die Menschen selbst einbringen, um ihre Arbeitsplätze zu erhalten? Viele kapseln sich auch ab, halten sich für machtlos.
REINSTÄDTLER Arbeit ist etwas sehr zentrales für die Menschen. Sie ist Einkommensquelle, sie ist identitätsstiftend und die Voraussetzung für Teilhabe, Selbstbestimmung und Anerkennung. Gerade heute sind alle Beschäftigten dazu aufgerufen mitzukämpfen, dass unser Lebensstandard erhalten bleibt und es auch künftig Wohlstand gibt. Dieser Wohlstand ist bedroht, weil Deutschland im immer härteren internationalen Wettbewerb zurückfällt und zunehmend Arbeitsplätze gefährdet sind. Die Gewerkschaften versuchen mit eigenen Konzepten und Vorschlägen und in enger Kooperation mit Betriebsräten, dies zu verhindern. Je mehr Menschen zur Maikundgebung kommen, desto deutlicher zeigen wir, wie wichtig die Arbeitnehmerbewegung auch heute ist.
Das Motto der Kundgebung lautet „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit, mehr Demokratie“. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es immer mehr um „Work-Life-Balance“geht, also den Ausgleich des Verhältnisses zwischen Arbeit und Freizeit, aber immer weniger um Leistung. Andere Nationen setzen alles daran, an die Weltspitze zu kommen. Sind wir wegen unseres hohen Lebensstandards zu bequem geworden?
REINSTÄDTLER Das sehe ich überhaupt nicht so. Die Lebenswirklichkeit in den Betrieben und Verwaltungen ist eine andere und kann und muss verbessert werden. Das steht nicht im Gegensatz zur Leistung, im Gegenteil. Seit der Wiedervereinigung wurde noch nie so viel gearbeitet wie 2023. Das zeigt eine gerade veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW. Das Problem liegt doch eher darin, dass nur 18 Prozent der Beschäftigten, die Überstunden leisten, für diese auch bezahlt werden. Ich bin überzeugt: Wir können gleichzeitig bessere Arbeitsbedingungen und mehr Wohlstand organisieren.
Und höhere
Löhne wollen die Gewerkschaften auch durchsetzen. Wie passt das alles zusammen?
REINSTÄDTLER
Arbeit hat einen Wert und Arbeit schafft Werte. Gute Arbeit muss deshalb auch gerecht bezahlt werden. Mehr Freizeit bedeutet, dass sich die Menschen in dieser Zeit den Dingen widmen können, die ihnen wichtig sind, zum Beispiel der Familie, oder sich in Vereinen und sozialen Organisationen engagieren. Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein.
Tritt der Gedanke, mit Arbeit und Leistung etwas zu erreichen, in Deutschland nicht mittlerweile gefährlich in den Hintergrund?
REINSTÄDTLER Mein Eindruck ist ein komplett anderer. Die Situation in den Betrieben ist alles andere als entspannt. Fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen während ihrer Arbeitszeit heute unter höchsten Anforderungen. Es gibt keine zeitlichen Lücken mehr im Arbeitsalltag. Und durch den Fachkräftemangel ist auch personell keine Entspannung in den Betrieben zu erwarten. Deshalb ist es ja so wichtig, dass Beschäftigte mehr
Zeit bekommen, ihr Leben autonomer zu gestalten. Ändern wir das nicht, drohen auch verstärkt gesundheitliche Probleme. In der Industrie etwa ist der Leistungsdruck erheblich gestiegen. Das sieht man auch an zunehmenden Krankenständen.
Den Gewerkschaften wird auch vorgeworfen, durch zu hohe Löhne zur Abwanderung von Betrieben beizutragen.
REINSTÄDTLER Das ist Unsinn. Die Gründe für die Abwanderung von Unternehmen haben nichts mit der Entwicklung der Löhne der letzten Jahre und heute zu tun, sondern vor allem mit den gestiegenen Energiekosten. In der Stahlindustrie etwa macht der Lohnkostenanteil etwa nur neun Prozent am Umsatz aus.
Die Unternehmen und damit auch die Beschäftigten brauchen einen vernünftigen Industriestrompreis. Außerdem fordern wir von der Bundesregierung schnellere Entscheidungen. Wir sind in der Transformation der Betriebe in neue Technologien mit einem derart rasanten Tempo unterwegs, wie es das in den letzten Jahrzehnten so nicht gab. Die politischen Rahmenbedingungen und Entscheidungen entsprechen diesem Tempo nicht mehr. Wir brauchen vor allem eine deutliche Beschleunigung der Genehmigungsverfahren und einen staatlichen Investitionsbooster. Die Schuldenbremse wird hier zur Zukunftsbremse. Vor allem müssen Zusagen der Bundesregierung auch langfristig Bestand haben. Investo
ren müssen Planungssicherheit haben. Im Moment kann man den Eindruck haben, dass bereits nach drei Monaten infrage gestellt wird, was zuvor beschlossen wurde. Bedenken Sie doch nur, was die Einstellung der Förderung von Elektroautos in ihrer Wirkung angerichtet hat.
Was muss dagegen getan werden?
REINSTÄDTLER Die Bundesregierung muss das tun, wofür sie gewählt ist: regieren. Man hat fast vergessen, dass die Ampel in Berlin unter dem selbst gesetzten Titel „Fortschrittskoalition“angetreten ist. Mittlerweile hat man den Eindruck, dass die Regierung intern über eine eigene Opposition verfügt, die das Regieren schwierig macht und schnelle Entscheidungen verhindert. Parteipolitische Erwägungen müssen hinten angestellt werden. Das gilt auch für die Opposition, wenn wir vorankommen wollen.
Reden wir über das Saarland. Was fällt Ihnen auf?
REINSTÄDTLER Ich habe den Eindruck, dass bei den zentralen Richtungsfragen – zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik – Regierung und Opposition mehr nach Gemeinsamkeiten suchen. Das ist schon anders als auf der Bundesebene.
Nach dem Ford-Desaster steht mit der Halbleiterfabrik von Wolfspeed in Ensdorf ein weiteres US-Unternehmen auf der Matte. Wie kann verhindert werden, dass sich eine Knallhart-Mentalität unter der Umgehung von Spielregeln wie bei Ford bei Wolfspeed nicht wiederholt?
REINSTÄDTLER Wir leben im Kapitalismus und in der Globalisierung. Unternehmen, die im Ausland investieren, lassen sich ungern an die Kette legen. Jedes Unternehmen entscheidet individuell. Was Ford betrifft, so steht eindeutig fest: Das ist Unternehmensversagen. Die Verantwortung liegt alleine beim Management. Ford hat sich damit keinen Gefallen getan. Zumal das Unternehmen seit Jahren Marktanteile verliert. Die wären besser beraten gewesen, solche Autos zu entwickeln, die auch gekauft werden. Das ist die beste Voraussetzung dafür, dass Standorte bestehen bleiben. Damit sind wir bei der Mitbestimmung: Je mehr auf Betriebsräte und Beschäftigte gehört wird, desto wirtschaftlich erfolgreicher sind Unternehmen.
„Es gibt keine zeitlichen Lücken mehr im Arbeitsalltag.“Ralf Reinstädtler Vorstandsmitglied der IG Metall
Worin sehen Sie heute die Standortvorteile des Saarlandes?
REINSTÄDTLER Wir haben hoch motivierte, auch an Schichtdienst gewöhnte Beschäftigte. Und verfügen zugleich über ein ausgeprägtes Wissen in der Automatisierung von Arbeitsabläufen in der Produktion. Viele Unternehmen haben Kompetenz in hoch wirtschaftlichen Fertigungsverfahren mit einer hohen Stückzahl. Da muss man anderswo lange suchen, um Vergleichbares zu finden. Auch die Forschung und Entwicklung ist im Saarland gut aufgestellt. Da geht es um die Frage, wie man noch mehr Produkte in die Praxis überträgt. Als unseren Hauptvorteil sehe ich die hohe Anzahl gut ausgebildeter Fachkräfte.