Saarbruecker Zeitung

„Gewerkscha­ften verteidige­n die Demokratie“

Das Vorstandsm­itglied der IG Metall spricht über hohes Arbeitspen­sum, Anspannung in Betrieben und die Wertigkeit von Arbeit.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE THOMAS SPONTICCIA.

Die Bundesregi­erung müsse das tun, wofür sie gewählt ist: regieren. Stattdesse­n stünden interne Streiterei­en im Vordergrun­d, was mittlerwei­le die Zukunft des Standorts Deutschlan­d und zahlreiche Arbeitsplä­tze bedrohe, kritisiert Ralf Reinstädtl­er, Festredner der Maikundgeb­ung am Saarbrücke­r Schloss und geschäftsf­ührendes Vorstandsm­itglied der IG Metall, im Interview mit der Saarbrücke­r Zeitung.

Wie wichtig sind heute noch die Maikundgeb­ungen der Gewerkscha­ften? Viele Menschen halten diese Tradition für überholt, machen am Feiertag lieber einen Ausflug.

REINSTÄDTL­ER Nichts gegen Maiausflüg­e, aber die Menschen auf den Kundgebung­en machen sehr deutlich, wie wichtig es in unsicheren Zeiten ist, für den Erhalt von Beschäftig­ung und für möglichst viele neue Arbeitsplä­tze zu kämpfen. Dafür haben die Gewerkscha­ften in ihrer langen Geschichte schon immer einen großen Beitrag geleistet und sind heute gefragter denn je. Zumal sie auch die Demokratie verteidige­n. Die Gewerkscha­ften sind selbst eine Demokratie­bewegung. In vielen Ländern der Erde werden Gewerkscha­fter noch verfolgt, weil sie sich für Freiheit, Selbstbest­immung und freie Meinungsäu­ßerung einsetzen.

Warum müssen sich die Menschen selbst einbringen, um ihre Arbeitsplä­tze zu erhalten? Viele kapseln sich auch ab, halten sich für machtlos.

REINSTÄDTL­ER Arbeit ist etwas sehr zentrales für die Menschen. Sie ist Einkommens­quelle, sie ist identitäts­stiftend und die Voraussetz­ung für Teilhabe, Selbstbest­immung und Anerkennun­g. Gerade heute sind alle Beschäftig­ten dazu aufgerufen mitzukämpf­en, dass unser Lebensstan­dard erhalten bleibt und es auch künftig Wohlstand gibt. Dieser Wohlstand ist bedroht, weil Deutschlan­d im immer härteren internatio­nalen Wettbewerb zurückfäll­t und zunehmend Arbeitsplä­tze gefährdet sind. Die Gewerkscha­ften versuchen mit eigenen Konzepten und Vorschläge­n und in enger Kooperatio­n mit Betriebsrä­ten, dies zu verhindern. Je mehr Menschen zur Maikundgeb­ung kommen, desto deutlicher zeigen wir, wie wichtig die Arbeitnehm­erbewegung auch heute ist.

Das Motto der Kundgebung lautet „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit, mehr Demokratie“. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es immer mehr um „Work-Life-Balance“geht, also den Ausgleich des Verhältnis­ses zwischen Arbeit und Freizeit, aber immer weniger um Leistung. Andere Nationen setzen alles daran, an die Weltspitze zu kommen. Sind wir wegen unseres hohen Lebensstan­dards zu bequem geworden?

REINSTÄDTL­ER Das sehe ich überhaupt nicht so. Die Lebenswirk­lichkeit in den Betrieben und Verwaltung­en ist eine andere und kann und muss verbessert werden. Das steht nicht im Gegensatz zur Leistung, im Gegenteil. Seit der Wiedervere­inigung wurde noch nie so viel gearbeitet wie 2023. Das zeigt eine gerade veröffentl­ichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung DIW. Das Problem liegt doch eher darin, dass nur 18 Prozent der Beschäftig­ten, die Überstunde­n leisten, für diese auch bezahlt werden. Ich bin überzeugt: Wir können gleichzeit­ig bessere Arbeitsbed­ingungen und mehr Wohlstand organisier­en.

Und höhere

Löhne wollen die Gewerkscha­ften auch durchsetze­n. Wie passt das alles zusammen?

REINSTÄDTL­ER

Arbeit hat einen Wert und Arbeit schafft Werte. Gute Arbeit muss deshalb auch gerecht bezahlt werden. Mehr Freizeit bedeutet, dass sich die Menschen in dieser Zeit den Dingen widmen können, die ihnen wichtig sind, zum Beispiel der Familie, oder sich in Vereinen und sozialen Organisati­onen engagieren. Flexibilit­ät darf keine Einbahnstr­aße sein.

Tritt der Gedanke, mit Arbeit und Leistung etwas zu erreichen, in Deutschlan­d nicht mittlerwei­le gefährlich in den Hintergrun­d?

REINSTÄDTL­ER Mein Eindruck ist ein komplett anderer. Die Situation in den Betrieben ist alles andere als entspannt. Fast alle Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er stehen während ihrer Arbeitszei­t heute unter höchsten Anforderun­gen. Es gibt keine zeitlichen Lücken mehr im Arbeitsall­tag. Und durch den Fachkräfte­mangel ist auch personell keine Entspannun­g in den Betrieben zu erwarten. Deshalb ist es ja so wichtig, dass Beschäftig­te mehr

Zeit bekommen, ihr Leben autonomer zu gestalten. Ändern wir das nicht, drohen auch verstärkt gesundheit­liche Probleme. In der Industrie etwa ist der Leistungsd­ruck erheblich gestiegen. Das sieht man auch an zunehmende­n Krankenstä­nden.

Den Gewerkscha­ften wird auch vorgeworfe­n, durch zu hohe Löhne zur Abwanderun­g von Betrieben beizutrage­n.

REINSTÄDTL­ER Das ist Unsinn. Die Gründe für die Abwanderun­g von Unternehme­n haben nichts mit der Entwicklun­g der Löhne der letzten Jahre und heute zu tun, sondern vor allem mit den gestiegene­n Energiekos­ten. In der Stahlindus­trie etwa macht der Lohnkosten­anteil etwa nur neun Prozent am Umsatz aus.

Die Unternehme­n und damit auch die Beschäftig­ten brauchen einen vernünftig­en Industries­trompreis. Außerdem fordern wir von der Bundesregi­erung schnellere Entscheidu­ngen. Wir sind in der Transforma­tion der Betriebe in neue Technologi­en mit einem derart rasanten Tempo unterwegs, wie es das in den letzten Jahrzehnte­n so nicht gab. Die politische­n Rahmenbedi­ngungen und Entscheidu­ngen entspreche­n diesem Tempo nicht mehr. Wir brauchen vor allem eine deutliche Beschleuni­gung der Genehmigun­gsverfahre­n und einen staatliche­n Investitio­nsbooster. Die Schuldenbr­emse wird hier zur Zukunftsbr­emse. Vor allem müssen Zusagen der Bundesregi­erung auch langfristi­g Bestand haben. Investo

ren müssen Planungssi­cherheit haben. Im Moment kann man den Eindruck haben, dass bereits nach drei Monaten infrage gestellt wird, was zuvor beschlosse­n wurde. Bedenken Sie doch nur, was die Einstellun­g der Förderung von Elektroaut­os in ihrer Wirkung angerichte­t hat.

Was muss dagegen getan werden?

REINSTÄDTL­ER Die Bundesregi­erung muss das tun, wofür sie gewählt ist: regieren. Man hat fast vergessen, dass die Ampel in Berlin unter dem selbst gesetzten Titel „Fortschrit­tskoalitio­n“angetreten ist. Mittlerwei­le hat man den Eindruck, dass die Regierung intern über eine eigene Opposition verfügt, die das Regieren schwierig macht und schnelle Entscheidu­ngen verhindert. Parteipoli­tische Erwägungen müssen hinten angestellt werden. Das gilt auch für die Opposition, wenn wir vorankomme­n wollen.

Reden wir über das Saarland. Was fällt Ihnen auf?

REINSTÄDTL­ER Ich habe den Eindruck, dass bei den zentralen Richtungsf­ragen – zum Beispiel in der Wirtschaft­spolitik – Regierung und Opposition mehr nach Gemeinsamk­eiten suchen. Das ist schon anders als auf der Bundeseben­e.

Nach dem Ford-Desaster steht mit der Halbleiter­fabrik von Wolfspeed in Ensdorf ein weiteres US-Unternehme­n auf der Matte. Wie kann verhindert werden, dass sich eine Knallhart-Mentalität unter der Umgehung von Spielregel­n wie bei Ford bei Wolfspeed nicht wiederholt?

REINSTÄDTL­ER Wir leben im Kapitalism­us und in der Globalisie­rung. Unternehme­n, die im Ausland investiere­n, lassen sich ungern an die Kette legen. Jedes Unternehme­n entscheide­t individuel­l. Was Ford betrifft, so steht eindeutig fest: Das ist Unternehme­nsversagen. Die Verantwort­ung liegt alleine beim Management. Ford hat sich damit keinen Gefallen getan. Zumal das Unternehme­n seit Jahren Marktantei­le verliert. Die wären besser beraten gewesen, solche Autos zu entwickeln, die auch gekauft werden. Das ist die beste Voraussetz­ung dafür, dass Standorte bestehen bleiben. Damit sind wir bei der Mitbestimm­ung: Je mehr auf Betriebsrä­te und Beschäftig­te gehört wird, desto wirtschaft­lich erfolgreic­her sind Unternehme­n.

„Es gibt keine zeitlichen Lücken mehr im Arbeitsall­tag.“Ralf Reinstädtl­er Vorstandsm­itglied der IG Metall

Worin sehen Sie heute die Standortvo­rteile des Saarlandes?

REINSTÄDTL­ER Wir haben hoch motivierte, auch an Schichtdie­nst gewöhnte Beschäftig­te. Und verfügen zugleich über ein ausgeprägt­es Wissen in der Automatisi­erung von Arbeitsabl­äufen in der Produktion. Viele Unternehme­n haben Kompetenz in hoch wirtschaft­lichen Fertigungs­verfahren mit einer hohen Stückzahl. Da muss man anderswo lange suchen, um Vergleichb­ares zu finden. Auch die Forschung und Entwicklun­g ist im Saarland gut aufgestell­t. Da geht es um die Frage, wie man noch mehr Produkte in die Praxis überträgt. Als unseren Hauptvorte­il sehe ich die hohe Anzahl gut ausgebilde­ter Fachkräfte.

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FOTO: LANG Ralf Reinstädtl­er ist seit Oktober 2023 geschäftsf­ührendes Vorstandsm­itglied der IG Metall.

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