Das Land soll die Kanzlerkandidatur retten
In den Städten hui, auf dem Land pfui: Die Grünen sind an der Spitze urban geprägt. In Bayern will eine Bio-Bäuerin die Partei nun fit für die Provinz machen.
Der Weg zu Gisela Sengl führt über Land. Auf kurvenreichen Straßen geht es durch Oberbayern, vorbei an Kühen, Kapellen, Kruzifixen und einem Windrad bis zu ihrem Dorf am Chiemsee. An der nahen Kreuzung steht ein Schild: „Was ist seltener als ein Sechser im Lotto“, steht da. „Ein Grüner mit Bildungsabschluss.“
„Ich bin manchmal fassungslos, wo wir hingekommen sind“, sagt Sengl in der Küche ihres alten Bauernhauses in Chieming ein paar Hundert Meter weiter. Für sie sei der Hass, der ihrer Partei gerade auf dem Land entgegenschlage, aber Motivation. „Ich habe mir gesagt, mich bekommt ihr nicht klein“, sagt Sengl. „Jetzt ärgern sich hier bestimmt einige, dass ich immer noch da bin.“Zwar ist Sengl im Oktober nach zehn Jahren aus dem bayrischen Landtag gewählt worden, doch ihre Parteifreunde haben sie in einer Kampfabstimmung knapp zur neuen Landeschefin gewählt.
Denn eine wie Sengl ist Mangelware bei den Grünen. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt die 63-Jährige einen Biobauernhof samt Hofladen. Die gelernte Gärtnerin kam als Quereinsteigerin in die Politik. Seit Jahrzehnten wohnt sie auf dem Land, spricht tiefen Dialekt und scheut den Kontakt nicht. „I hob koane Angst voa Stammtisch und Bierzelt“, sagt sie.
Sengl soll in Bayern ein Problem lösen, das die Grünen in der ganzen Republik umtreibt. In den Städten erringt die Ökopartei regelmäßig Direktmandate. Doch auf dem Land laufen ihnen die Wähler davon. Wie dramatisch die Spreizung ist, zeigt der Blick aufs bayrische Wahlergebnis: In München Mitte gab es 44 Prozent, im Kreis Freyung-Grafenau: 4,3.
Für die Ambitionen der Grünen, die offiziell weiter mit einem Kanzlerkandidaten zur nächsten Bundestagswahl antreten wollen, kann die Schwäche verhängnisvoll werden. Spitzengrüne haben das erkannt: „Ich sage schon lange, dass wir unsere Politik vom Land her denken müssen“, mahnte zuletzt die langjährige Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt.
Doch es sind nicht nur die Inhalte. Ihr Personal sei zu homogen, klagen Grüne hinter vorgehaltener Hand. Zu urban, zu akademisch, zu jung, lautet der Befund. Von 118 Bundestagsabgeordneten hat nur einer eine Handwerks-Ausbildung. „Das Personal ist der Schlüssel, um auf dem
Land erfolgreich zu sein“, sagt Dieter Janecek, bayrischer Bundestagsabgeordneter. Er rät seiner Partei, nicht nur die eigene Blase zu bedienen: „Oberste Priorität muss es jetzt sein, gezielt noch mehr Leute aufzubauen, mit denen wir ernsthafte Chancen auf ein Bürgermeister- oder Landratsamt haben. So wie es den Grünen in BadenWürttemberg und Hessen gelungen ist.“
Gisela Sengl möchte den Teufelskreis durchbrechen. „Ich verkörpere das Land, dadurch habe ich automatisch einen Vertrauensvorschuss.“Wie begrenzt der ist, hat sie erlebt, als Demonstranten sie bei einer Veranstaltung mit Agrarminister Özdemir niederschrien und vor dem Bierzelt sogar Steine zum Verkauf angeboten wurden. Sie hofft auf mehr Hilfe aus Berlin: „Unser Veränderungswille verschreckt die Menschen, da müssen wir noch mehr Sicherheit geben. Sei es beim Heizungsgesetz oder in der Landwirtschaftspolitik.“Die Galgen träfen die Grünen auf dem Land stärker als in den Städten. Sengl will deshalb alle 91 grünen Kreisverbände besuchen – und immer wieder aufs Land gehen.