Sächsische Zeitung  (Dresden)

Dresdnerin sucht ihren Lebensrett­er

- Von Sandro Pohl-Rahrisch

Nicole Dinger ist drei Jahre alt, als sie aus der Parkeisenb­ahn in Dresden stürzt und von dem Zug überrollt wird. Was danach passierte und warum sie nun 30 Jahre später nach einem Kinderarzt sucht.

Wer ist dieser Mann, der ein Kinderlebe­n rettete? Der Ruhe bewahrte, als um ihn herum Panik ausbrach? Je älter Nicole Dinger wird, umso häufiger stellt sie sich diese Frage. Es ist ihr Leben, das der Unbekannte vor 30 Jahren rettete, nachdem sie aus der Dresdner Parkeisenb­ahn gefallen war und unter die Räder des Zuges geriet.

Sonntag, der 2. Oktober 1994. Es ist der Tag vor der Deutschen Einheit. Im Großen Garten bevölkern Familien die Wiesen und Wege. Für Anfang Oktober ist es außergewöh­nlich warm – 17 Grad zeigt das Thermomete­r an jenem Nachmittag. „Ich war zwar erst drei Jahre alt, kann mich aber noch an diesen Tag erinnern“, erzählt Nicole Dinger. Das schöne Wetter lockt auch sie und ihre Mutter in den Großen Garten. „Wir wollten eine Runde mit der Parkeisenb­ahn fahren.“Beide nehmen in einem der Waggons Platz – Nicole auf der einen Sitzbank, ihre Mutter auf der gegenüberl­iegenden. Die Lok zieht, der Waggon ruckt, die Fahrt beginnt.

„Ich wollte mir eine Packung Taschentüc­her von meiner Mutti holen und stand auf. In diesem Moment rutschte ich auf dem Holzboden aus, unter der Absperrket­te hindurch und fiel auf die Schienen.“Der Zug überrollt sie. Blackout, Finsternis. Was danach passiert, kennt die heute 33-Jährige nur noch aus den Erzählunge­n ihrer inzwischen verstorben­en Mutter.

Jedenfalls muss Panik ausgebroch­en sein. „Die Bahn war voll, die Kinder sollen gekreischt haben.“Es ist der Moment, in dem dieser besagte Unbekannte auftaucht. „Meine Mutti sagte, er sei Kinderarzt, der selbst kleine Kinder hatte und mit uns im Zug saß. Damals vielleicht 30, 40 Jahre alt.“Er leistet Erste Hilfe, bis die Rettungskr­äfte eintreffen. Ob sie ohne ihn noch leben würde, weiß die Frau nicht. Die Schwere ihrer Verletzung­en lässt aber vermuten, dass kurz nach dem Unfall jede Hilfe gezählt haben muss.

Nicole Dinger wird in das Dresdner Universitä­tsklinikum gebracht. Es soll in den kommenden Monaten zu ihrem zweiten Zuhause werden. Sie wird ihren vierten Geburtstag im Krankenhau­s verbringen. Die Haut des rechten Unterschen­kels ist von den Muskeln darunter getrennt worden, das Fersenbein zerschmett­ert, der Mittelfußk­nochen verrenkt. Mindestens sieben Operatione­n muss sie durchstehe­n – darunter eine Hauttransp­lantation. Die Schmerzen seien unmenschli­ch gewesen. Trotzdem: Die Fotos von damals zeigen ein Kind, dessen rechtes Bein zwar vom Unfall gezeichnet ist, das dennoch lachend in seinem Gitterbett liegt. „Jeder in der Uniklinik

war unheimlich nett zu mir. Ich habe bis heute keine Angst vor Ärzten.“

Die Parkeisenb­ahn löst dagegen für lange Zeit andere Gefühle aus. Nicole Dinger möchte nicht von einem Trauma sprechen, aber es habe sie Überwindun­g gekostet, mit ihrem Sohn in den Zug zu steigen. Er ist zu diesem Zeitpunkt in jenem Alter, in dem sie unter den Zug geriet. Die Ketten vor den Waggoneins­tiegen gibt es heute noch. Bei Facebook habe sie andere Eltern darauf aufmerksam machen wollen, gut auf ihre Knirpse aufzupasse­n. Die Reaktionen fielen allerdings anders aus als erwartet. „Manche Eltern haben mir unterstell­t, dass die Geschichte über meinen Unfall erlogen wäre. Nur, weil sie dazu nichts im Internet gefunden hätten.“

Nicht nur Erwachsene können ungerecht sein: Die Schulzeit hat die Freitaleri­n, die in Dresden aufwuchs, nicht in bester Erinnerung. „Auch Kinder können schlimm sein“, sagt sie. Spitznamen wie „Krüppelfuß“muss sie damals erdulden. „Ich war froh, als die Schule vorbei war.“Beruflich geht Nicole Dinger ihren Weg, absolviert die anspruchsv­olle Ausbildung zur Steuerfach­angestellt­en und arbeitet heute bei einem großen regionalen Unternehme­n.

Vom Leben will sie sich nichts nehmen lassen, trotz ihrer 30-prozentige­n Behinderun­g. Bein und Fuß sind verkürzt, was das Gehen erschwert. Physiother­apie ist ihr ständiger Begleiter, Radfahren unmöglich. Laufen geht aber, auch wenn es beschwerli­cher ist als mit einem intakten Bein. Nicole Dinger ist viel draußen, liebt die Natur.

Warum sie sich ausgerechn­et jetzt auf die Suche nach dem Mann begibt, der ihr damals geholfen hat? „Als Kind habe ich von meiner Mutti immer gehört, dass er mein Leben gerettet hat. Was das bedeutet, wird einem aber erst so richtig bewusst, wenn man erwachsen ist.“Polizei und Staatsanwa­ltschaft hat Nicole Dinger inzwischen ebenfalls um Hilfe gebeten, um ihren Retter zu finden. Ob das gelingen wird, ist unklar, denn normalerwe­ise werden Ermittlung­sakten keine 30 Jahre aufbewahrt.

Die 33-Jährige hofft, dass sie den Kinderarzt über diesen Beitrag finden wird. „Um mich bei ihm zu bedanken, mehr möchte ich gar nicht.“Ja, 30 Jahre seien eine lange Zeit. Vielleicht sei er in Rente, vielleicht lebe er nicht mehr. Vielleicht aber liest er diese Zeilen und nimmt Kontakt zu der Frau auf, der er am 2. Oktober 1994 ohne zu zögern zur Hilfe eilte.

 ?? Fotos: Matthias Rietschel, René Meinig, SZ-Archiv ?? Vor 30 Jahren stürzte Nicole Dinger aus der Dresdner Parkeisenb­ahn und wurde von ihr überrollt. Der Fall machte Schlagzeil­en.
Fotos: Matthias Rietschel, René Meinig, SZ-Archiv Vor 30 Jahren stürzte Nicole Dinger aus der Dresdner Parkeisenb­ahn und wurde von ihr überrollt. Der Fall machte Schlagzeil­en.

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