„Fortschritts“Kleingartenlokal
Zwei Dresdner Veranstalter halten mit Liebe zur Nostalgie und Sinn für Zeitgeist ein Traditionslokal lebendig und damit eine grüne Oase mitten in der Neustadt.
Auf dem Sims über dem Tresen stehen sie in Reih und Glied. So wie es sich für ein solches Fleckchen Erde gehört. Hier und da haben ihre roten Zipfelmützen Schrammen. Vielleicht brachte ein Herbstwind sie einst im Beet zu Fall. Doch hier oben sind die Zwerge sicher und können beobachten, wie wieder Leben im Gartenlokal Fortschritt einzieht.
Dafür sorgen seit Herbst 2023 Steffen Grosche und Jan Michael. Sie haben den Vorstand des Kleingartenvereins Fortschritt mit ihrem Konzept überzeugt, schließen an eine Tradition an und versprechen, mit der wild-romantischen Klause am Rand des Hechtviertels einen Treff für Alteingesessene und Neulinge zu erhalten.
Das heißt nicht, dass sie ohne Modernisierungen auskommen. Im Gegenteil. Über Jahrzehnte hatte der Ex-Betreiber Michael Beitlich seine Gäste in einem Interieur begrüßt, das so wirkt, wie „Schank- und Speisewirtschaft“klingt. Optisch sollte das auch so bleiben, als er in den Ruhestand ging und Jüngeren den Laden überließ. Doch Investitionen waren unumgänglich.
„Wir haben das Parkett extra legen lassen. Heizkörper und -system sind neu, Türen, Wandvertäfelungen und Terrassendächer auch“, erzählt Grosche, der mit Partnern auch im Hebedas, Bautzner Tor und in der Saloppe zukunftsweisend längst vergangener Feierkultur huldigt. „Aber wir haben alles so aussehen lassen, als ob es alt ist, so wie der Rest der Einrichtung.“
Die stammt zu großen Teilen noch aus der Mitte der 1950er-Jahre. Damals wurde die Gartenklause als Kulturheim des Kleingartenidylls eröffnet. Schon da lud es Laubenpieper und Stadtpflanzen zum Essen, Feiern, Kegeln und Tanzen ein. Heute ist die Anlage rund 700 Parzellen stark, in denen inzwischen sämtliche Generationen vertreten sind. Entsprechend sehen Grosche und Michael ihr Publikum.
„Hier kommen die Alten her, um ihr Bier zu trinken und Skat zu spielen, aber auch junge Leute und Familien, denen die Atmosphäre gefällt“, sagt Michael Thiede. Er ist der Held der Arbeit und der Erfahrenste im Team rund um Chefin Annelene Bellmann. „Ich bin seit elf Jahren hier“, erzählt der 37-Jährige, der als Restaurantfachmann das Arbeiten in renommierten Restaurants kennt, doch den Fortschritt liebt.
Der war es für ihn, als er über seinen Vater, einen Gleisbauer, Beitlich kennenlernte und in seiner Klause anfing. „Hier ist es einfach menschlicher“, sagt er, überlegt eine Weile und findet doch keine bessere Beschreibung dessen, was ihn so lange hält. Über die Jahre seien viele Stammgäste auch Freunde geworden, die den Mitarbeitern auf Augenhöhe begegnen und keinen Bückling erwarten, wie es Thiede im Reich der gestärkten Tischtücher erfahren hat.
Alles außer Küche ist sein Aufgabenfeld. Auch ohne am Herd zu stehen, freut er sich über die neue Karte im Lokal. Mit ihr gilt es, den Spagat zwischen Hausmannskost und neuer Esskultur zu schaffen. Zu der gehören auch vegetarische und vegane Gerichte wie Kartoffelsuppe mit „Viener“und Brot, Blumenkohlschnitzel mit Bratkartoffeln und Salat oder „Feuerwehrnudeln“, was bedeutet: „Spirelli mit gebratenen Vürstchen, Tomatensoße und Keese“. Für Sprachscherze ist Team Grosche schon lange bekannt.
Eine Oase mitten im Stadtgewühl
Es verzichtet auch nicht auf wurstige Wiener, Würzfleisch, Pulled Pork, Burger, Spareribs und Bauernfrühstück. Dazu dürfte das Felsenkeller pro Pulle zu 2,70 Euro oder Böhmisches Pils vom Fass zu 20 Cent mehr für 0,4 Liter gut passen. Bis auf ein Desperados erreicht kein einziger Gerstensaft die Vier-Euro-Marke, wohl wissend, dass sich in der heutigen Zeit die Geister an den Bierpreisen scheiden und die Schmerzgrenze vieler Gäste allerorten überreizt ist.
Zwischen Gastraum und Saal weht ein erster Frühlingswind und nimmt durch die geöffneten Fenster und Türen den Geruch nach kaltem Zigarettenrauch, alten Möbeln und Bratendunst mit nach draußen. Der Saal bietet allen Nostalgikern eine immer seltener werdende Atmosphäre zum Feiern und Partymachen. Gastgeber können dorthin zu bis zu 100-köpfigen Familienfesten, Jubiläen, Firmenfeiern, Hochzeiten und Jugendweihen einladen. Eine separate Terrasse gehört dazu, eine kleine Bühne und eine Bar. An der gilt generell: ohne Pfeffi und Mocca Edel kein Fortschritt.
Sogar eine Kegelbahn gibt es. „Die ist Folklore, mit alter Mechanik zum Aufstellen der Kegel, die wir liebevoll warten lassen“, sagt Grosche. Auch sie kann gemietet werden. Selbst wenn man die Kegel nicht trifft – das Flair ist nicht zu übertreffen.
Das Programm für die Gartensaison steht: Zu den nächsten Highlights gehören die Konzerte der Kultband T.S.O. am 6. April und von „Freddy Fischer and his Cosmic Rocktime Band“am 19. April. Auch die Tanzszene hat in der Gartenklause ein festes Domizil. Regelmäßig treffen sich dort Salsatänzer und Tangofreunde zur Milonga. „Wir wollen das Format Dorfdisco wieder beleben“, sagt Grosche. Auch solch legendäre Abende wie der Marienkäferfasching müssen unbedingt Wiederholung finden: „Ein Saal voller Marienkäfer, das war großartig!“Auch das Sommerfest des Kleingartenvereins Fortschritt am 13. Juli knüpft an Beliebtes und Bewährtes an – vorwärts immer, rückwärts nimmer!