„Sprache ist das Wichtigste, um sich zu integrieren“
IDer venezolanische Geflüchtete Ruben Hurtado lebt seit Oktober 2023 in Deutschland. Mit einem Projekt der Bürgerbühne will er in Dresden ankommen.
n einem kahlen, weißen Raum in der Dresdner Neustadt, in dem die Fenster mit schwarzem Stoff abgehangen sind, sollen Visionen für Dresden entstehen. Der Gummiboden erinnert an eine Turnhalle, an der Wand lehnt eine Leinwand auf zwei Stühlen. Auf einem Kleiderständer im Neonlicht glitzern bunte Pailletten an selbstgemachten Kostümen, gelb, rot, lila, gold. Und mittendrin: Ruben Hurtado. Vor sechs Monaten kämpfte er noch in Venezuela für Menschenrechte. Jetzt hofft er selbst auf Asyl – und singt Lieder über Früchte im Garten – in einer Sprache, die er nicht versteht.
Ruben Hurtado stammt aus einer Großstadt im Norden von Venezuela. Seit Februar lebt der 58-Jährige in der Flüchtlingsunterkunft im Dresdner Industriegebiet. Er spricht nur Spanisch. Über seine Integrationshelferin kam er zum Projekt „Musikalisiert Euch“der Bürgerbühne Dresden. 25 Menschen versuchen dort eine Zukunftsvision für die Stadt zu entwickeln. 25 Menschen, die sich vorher nie begegnet sind und auch sonst wohl nie begegnet wären: Mama Birgit, ein non-binärer Mensch, der sich Stellus nennt und Jens, der Promi-Architekt. Sie alle fühlen sich in der Politik wenig gehört. Darum wollen sie ihre Forderungen mit Gesang und Schauspiel bis Juni auf die Bühne bringen.
Die Bürgerbühne am Staatsschauspiel bringt seit 2009 Menschen aus Dresden und Umgebung auf die Bühne und gibt ihnen die Möglichkeit, sich mit ihren eigenen Geschichten und Erfahrungen künstlerisch auszudrücken. Ruben Hurtado betritt an diesem Tag als letzter den Probenraum, die Stimmen der anderen hörte er schon vom Flur aus. Er setzt sich, behält die Jacke erst mal an und beobachtet die Gruppe. „Ich nehme an diesem Projekt teil, weil die Kunst ein Vermittler ist. Es bringt die Gemeinschaft dazu, ihre Umgebung zu verändern und zu verbessern“, sagt er. Regisseu
rin Bernadette La Hengst eröffnet die erste Probe mit einem Klatschkonzert für alle Anwesenden.
Mit „Musikalisiert Euch“soll eine außerparlamentarische Bewegung entstehen, die politische Forderungen in Form von Gesang und Theaterelementen äußert und Minderheiten Gehör verschafft. Der Hintergrund legt ein neues Nachdenken darüber nahe: Nur 23 Prozent der Sachsen können sich vorstellen, in einer Partei mitzuarbeiten, so das Ergebnis des aktuellen Sachsenmonitors im Auftrag der Staatskanzlei. Innerhalb des Projektes sind zwei Proben pro Woche geplant, jeweils drei Stunden lang. Absagen unerwünscht. Und das mit 25 Menschen, deren Persönlichkeiten mit in das Ergebnis einfließen sollen. Voraussetzung für die Teilnahme: Begeisterung. Bühnenerfahrung nicht nötig.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die unterschiedlichsten Ideen für ein Dresden der Zukunft mitgebracht: „Mehr autofreie Straßen in Dresden!“„Mehr Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche!“„Ein klimaneutrales Dresden!“
Auch „mehr Glitzer“und Aktionen gegen Rechtsextremismus fordern sie. Ruben Hurtado schweigt, unfreiwillig. Bevor er seine eigenen Visionen äußert, müsste er verstehen, was die anderen sagen.
Familie bleibt in Venezuela zurück
Schon in seiner Jugend in Venezuela entdeckt Ruben seine Liebe für Musik. Vor seinem Jura-Studium arbeitet er in Theaterproduktionen mit und moderiert gelegentlich Radiosendungen. Dann fällt Venezuela in eine wirtschaftliche Krise. Das Regime verändert sich, die Regierung wird immer
autoritärer. Eingeschränkte Meinungsfreiheit. Gegner des Regimes werden eingesperrt.
„Meine Familie und ich wurden von bewaffneten Gruppen angegriffen, die in mein Haus eindrangen und uns entführt haben“, erzählt Hurtado. Überprüfen lässt sich das nicht. Im Oktober vergangenen Jahres ergreift er demnach die Flucht, kommt zuerst bei Bekannten in Köln unter und dann in Dresden. Seine Frau und sein Sohn bleiben zurück. Hurtado ist nicht der Einzige, der sich entschieden hat, zu gehen.
Über sieben Millionen Venezolaner sind bereits aus ihrem Heimatland geflohen. In Sachsen machen sie inzwischen die zweitgrößte Gruppe an Asylsuchenden aus – nach Syrern. „Viele verstehen nicht, warum ich meine Frau und meinen Sohn zurückgelassen habe“, sagt Hurtado. „Es war die Unsicherheit. Weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Diesen Prozess wollte ich allein durchlaufen.“Mit seiner Frau und seinem Sohn telefoniert er jeden Tag.
Theaterprobe mit Übersetzungshilfe
Regisseurin La Hengst fordert die Gruppe nun auf, sich hinzustellen. „Links die hohen Stimmen, rechts die tiefen.“Hurtado schaut sich im Raum um und geht mit den anderen Männern auf die rechte Seite. Er stellt sich einfach dazu. La Hengst teilt Liedzettel aus, holt ihre E-Gitarre aus dem schwarzen Koffer, nächste Übung: Singen. Hurtado holt sein Handy aus der Manteltasche, öffnet die Übersetzer-App und drückt den Spracherkennungsknopf. Er lässt die App mithören, stoppt gelegentlich, liest die spanische Übersetzung und macht dann weiter. Gemeinsam singt die Gruppe Lieder von La Hengst, auch Hurtado versucht mitzumachen. Die deutschen Songtexte handeln von Gemeinschaft und Widerstand. „Tauschen ist Teilen“, „Gedankenreisen in der Welt“, „Wir singen zur Senkung der Arbeitsmoral.“
Immer wieder gibt Hurtado einzelne Wörter in seine App ein, blickt nochmal genau auf den Liedtext, verbessert das Geschriebene in seiner App. Währenddessen wippt er im Takt, traut sich sogar, einen eigenen Beat vorzugeben, den die anderen nachmachen sollen. La Hengst muntert ihn auf, auch die anderen lächeln. Nach drei Stunden ist die Probe vorbei. Bernadette La Hengst umarmt Ruben Hurtado zum Abschied. Er versucht, „bis morgen“auf Deutsch zu sagen. Die Regisseurin fragt, wie man sich auf Spanisch verabschieden würde. „Hasta mañana“, sagt Hurtado.
Am 2. April beginnt sein Integrationskurs, er will Deutsch lernen. „Die Sprache ist das Wichtigste, um sich in ein Land zu integrieren“, sagt er. In seinem Asylverfahren wartet er noch auf eine Entscheidung. Ob er bei der Premiere im Juni dabei sein kann, weiß er nicht.