Tote Hirschkuh hängt im Baum
Ein Tierkadaver verwest in der Sächsischen Schweiz in einer Baumkrone. Daneben ist eine Wildkamera installiert. Was hat es damit auf sich?
Es stinkt bestialisch an den Lehnsteigtürmen in der Sächsischen Schweiz. Eine tote Hirschkuh hängt dort unterhalb der Kletterfelsen in einer Buche fest. Das Tier klemmt einige Meter über dem Boden in einer Astgabel und verwest. Auf dem Waldboden liegen Fellbüschel, Flüssigkeit tropft aus dem Kadaver.
Es scheint, als wäre das Wild vom Felsen abgestürzt. Die Lehnsteigtürme sind ein beliebtes Klettergebiet bei Schmilka. An den Gipfeln der Felsgruppe gibt es viele Kletterwege besonders im leichteren Schwierigkeitsbereich. Die Türme stehen auf einem 30 Meter hohen Felssockel, von einem anfangs breiten Band beginnen die Kletterwege.
Ist die Hirschkuh dort, wo das Band immer schmaler wird vielleicht in die Enge getrieben worden und dann über die hohe Felswand nach unten gestürzt? Oder wurde das tote Tier womöglich gezielt zu Forschungszwecken in dem Baum platziert, um seine Zersetzung zu beobachten?
Denn direkt neben dem Kadaver hängt eine große Insektenfalle an der Buche, am Stammfuß des Baumes ist ein Leimring angebracht, an dem Insekten kleben bleiben. Die gesamte Szenerie wird von einer Wildkamera beobachtet.
Tatsächlich handelt es sich bei der ungewöhnlichen Situation um beides: einen Unfall und ein Forschungsprojekt. Die Hirschkuh ist nach Erkenntnissen der Nationalparkund Forstverwaltung bereits vor einiger Zeit tödlich verunglückt, wie Sprecher Hanspeter Mayr auf Anfrage von Sächsische.de mitteilt. Sie muss von dem Felsriff abgestürzt sein, landete dann wohl in der Baumkrone und blieb dort hängen.
„Wir haben an der Lage des toten Tiers nichts verändert“, stellt Mayr klar. Gleichzeitig wolle man den außergewöhnlichen Umstand für Forschungszwecke nutzen. Mitarbeiter der Nationalpark- und Forstverwaltung haben die Falle für Fluginsekten sowie die Wildkamera aufgehängt, um zu dokumentieren, welche Tiere an der Verwertung des Kadavers beteiligt sind.
Der Hintergrund ist ein Forschungsprojekt des Bundesamts für Naturschutz in fast allen deutschen Nationalparks. Unter der Leitung von Wissenschaftlern der Universität
Würzburg sollen dabei die ökologischen Prozesse untersucht werden, die rings um verendete Wildtiere ablaufen.
„Wildtierkadaver sind ein Hotspot für die Artenvielfalt“, heißt es in der Projektbeschreibung. In und an ihnen tummeln sich demnach viele Organismen: von Bakterien über Pilze, Insekten und Säugetiere bis hin zu Vögeln. Es geht darum herauszufinden, was passiert, wenn man die Kadaver in der Natur belässt. Das ist bisher selbst in den Nationalparks nicht üblich.
Der Nationalpark Sächsische Schweiz habe sich bisher kaum an dem Projekt beteiligt, um Konflikte mit den Besuchern zu vermeiden, erklärt die hiesige Forstverwaltung.
Das Gebiet ist vergleichsweise klein und stark frequentiert.
Angesichts des aktuellen Zufallsfunds wolle man jedoch die Gelegenheit nutzen und Stichproben erheben, die später mit langfristigen Untersuchungsergebnissen aus anderen Nationalparks verglichen werden können. Im Nationalpark Bayerischer Wald beispielsweise wurden bei Untersuchungen bereits sehr viele Arten nachgewiesen, die an der Zersetzung von Tierkadavern beteiligt sind.
Im Falle der Hirschkuh in der Sächsischen Schweiz sollten Waldbesucher die herabgefallenen Reste des Tierkörpers nicht berühren, erklärt Nationalparksprecher Hanspeter Mayr. Die Stelle liege ohnehin abseits der markierten Wanderwege, sodass nur wenige Besucher dorthin gelangen dürften. Der Kadaver hängt nicht erreichbar hoch in der Baumkrone. Für Kletterer an den benachbarten Kletterfelsen sei allerdings die Geruchsbelastung mit den höheren Temperaturen der vergangenen Woche gestiegen.