Leben mit der großen Müdigkeit
Weil Sascha Hebestreit am Erschöpfungssyndrom leidet, geht das Leben auch an seiner Familie vorbei. Sie muss um die Anerkennung der Erkrankung kämpfen.
S ascha macht die Nacht zum Tag. Ganz anders als das andere tun. Die feiern bis zum Morgengrauen, laut und bunt, genießen den Rausch und ihre besten Jahre. Sascha Hebestreit scheint sie verloren zu haben. Seine Lebensfreude ist langsam und leise. Sie dämmert im Halbdunkel des Wohnzimmers, auf dessen Couch er die Zeit verschläft. Tage, Wochen, Jahre.
Am mobilsten ist der 44-Jährige in den Nachtstunden. Da ist es ruhig und dunkel um ihn herum. Licht, Lärm und Trubel stressen ihn enorm. Sascha hat nicht vergessen, wie es war, aus den Vollen zu schöpfen: immer in Aktion, neugierig, unternehmungslustig, fröhlich, leicht. Schichtdienst und Kraftsport, Reisen und Radfahren, die Tage dicht gefüllt mit Arbeit, Familie, Freunden, Freizeit.
Jetzt sitzt seine Tochter Lara neben ihm auf dem orangefarbenen Sofa. Die Vorhänge der großen Glasfront des Einfamilienhauses sind zugezogen. Sie filtern den Tag, lassen nur einen Schein davon herein. Schon das ist zu viel. Auch im Wohnzimmer trägt Sascha eine Sonnenbrille. Die ganze Familie lebt in einem eigenen Kosmos, aus dem Lara und ihre Mutter Ramona nur heraustreten, um Schule und Arbeit zu besuchen, einzukaufen, hin und wieder allein kurz zu verreisen. Dann kehren sie zurück in diese eingefrorene Welt, in der sich fast alles nach Sascha richtet.
Was Lara am meisten vermisst, woran sie sich am liebsten erinnert? In den Augen der 18-Jährigen sammeln sich Tränen. „Ich war 14 Jahre lang Geräteturnerin, da hat mich Vater viel zum Training und zu Wettkämpfen begleitet“, erzählt sie. Überhaupt habe der Sport die beiden verbunden. Trampolin springen, Einrad fahren. Genauso wie das Reisen. „Mein Papa ist auch mit ins Trainingslager gefahren.“Es war immer etwas los.
Jetzt ist Lara froh, wenn sie die knappe Aufmerksamkeitspanne ihres Vaters abpassen kann. Dann sitzt sie nach der Schule bei ihm auf der Couch, erzählt von ihren Erlebnissen, fragt ihn um Rat, teilt ihre Freude. Zum Sport geht sie nun allein. Statt in die Turnhalle zum Krafttraining, Bodybuilding wie einst ihr Vater.
Der verlässt das Haus seit Jahren kaum noch – zuletzt nur mit größter Kraftanstrengung für Termine bei verschiedenen Gutachtern. Seit Sascha im Januar 2020 an einer schweren Erkältung litt, ist er nie mehr wirklich gesund geworden. Es folgte eine Lungenentzündung. „Ich war drei, vier Monate lang krankgeschrieben“, sagt er. Unterdessen hatte Corona die Welt im Griff. Doch von dem Virus sprach im Zusammenhang mit seiner Erkrankung noch niemand. Erst Anfang März war der erste Fall in Sachsen offiziell bestätigt worden.
Auch heute führt kein Mediziner sein Leiden wirklich auf eine Coronainfektion zurück. Doch die Pandemie hat den Fokus auf Folgeschäden nach Virusinfektionen gelegt. Sie können Autoimmunreaktionen auslösen. Das bedeutet, die körpereigenen Abwehrkräfte, die eigentlich kranke Zellen bekämpfen sollen, richten sich gegen gesunde. Das ruft beispielsweise chronische Entzündungen in Organen hervor. Vermutet wird, dass diese Fehlleitung auch den Informationstransport zwischen Nervenzellen hemmen kann.
Es wirkt, als gebe es in Saschas Organismus
eine undichte Stelle, durch die seine Energie entweicht. Was auch immer in seinem Körper passiert ist, er verfügt nach eigener Beschreibung nur über etwa 20 Prozent seiner körperlichen Kräfte. Die braucht er für die lebensnotwendigen Tätigkeiten wie Aufstehen, Duschen, Kleiden, Essen, so gut es geht Kontakt halten zu Selbsthilfegruppen, in denen sich Menschen zusammengefunden haben, denen es geht wie ihm.
Auch sie sind, oft ohne nachweisbare physische Ursache, zutiefst erschöpft. Sie schlafen mindestens doppelt so viel wie andere Menschen, erholen sich im Schlaf jedoch kaum. Ihre Strategie, damit bestmöglich umzugehen, heißt Pacing. Das meint den schonenden Umgang mit den eigenen Energieressourcen, um Überlastung strikt zu vermeiden. Damit soll sich die Häufigkeit
und Schwere der sogenannten Crashs reduzieren lassen. Das sind Zusammenbrüche nach zu großer Anstrengung.
Das Energiemanagement sei international unter dem englischen Begriff Pacing bekannt und sei mit „sich selbst das richtige Tempo vorgeben“zu übersetzen. Entwickelt wurde es von ME/CFS-Forschenden und -Erkrankten schon in den 1980er Jahren, heißt es auf der Website der Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V. mit Sitz in Hamburg.
Die Diagnose MECFS, auch als schweres Fatigue-Syndrom bekannt, wurde während einer Rehabilitationskur gestellt, die Sascha so stark erschöpfte, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Die Therapeuten reduzierten Anwendung um Anwendung. Schließlich ging Sascha mit einem Namen für seinen Zustand nach Hause, den er nie zuvor gehört hatte.
Bis heute ist er krankgeschrieben. Mithilfe seiner Frau hat er eine höhere Pflegestufe und Rente beantragt, doch der Antrag mündet in einen Rechtsstreit. „Wir waren bei drei Gutachtern, die uns die Rentenkasse vorgegeben hat“, sagt Ramona Hohlfeld, die ihren Mann im Laufe der Jahre schon zu unzähligen Untersuchungen und Tests begleitet hat. Am meisten mache ihnen zu schaffen, dass Sascha latent unterstellt werde, seinen Zustand zu fingieren, nur weil sich kein organischer Schaden diagnostizieren lasse.
Doch was hat ein Mensch Mitte 40 davon, sein Leben freiwillig zwischen Bett und Couch zu verbringen, nichts mehr von all dem zu tun, was er einst liebte? Selbst wenn dieses Befinden eine rein psychische Ursache hätte, wäre es doch eine Krankheit, die es unmöglich macht, einer Arbeit nachzugehen, Dinge zu unternehmen und auch nur das Haus zu verlassen.
„Ich wünsche mir einfach nur, dass meine Situation anerkannt wird und ich nicht mehr streiten und kämpfen muss“, sagt Sascha. „Dann könnte ich mich in Ruhe damit beschäftigen, wie ich mit 20 Prozent Energie trotzdem ein bisschen lebenswert lebe.“