Sächsische Zeitung  (Dresden)

Leben mit der großen Müdigkeit

- Von Nadja Laske

Weil Sascha Hebestreit am Erschöpfun­gssyndrom leidet, geht das Leben auch an seiner Familie vorbei. Sie muss um die Anerkennun­g der Erkrankung kämpfen.

S ascha macht die Nacht zum Tag. Ganz anders als das andere tun. Die feiern bis zum Morgengrau­en, laut und bunt, genießen den Rausch und ihre besten Jahre. Sascha Hebestreit scheint sie verloren zu haben. Seine Lebensfreu­de ist langsam und leise. Sie dämmert im Halbdunkel des Wohnzimmer­s, auf dessen Couch er die Zeit verschläft. Tage, Wochen, Jahre.

Am mobilsten ist der 44-Jährige in den Nachtstund­en. Da ist es ruhig und dunkel um ihn herum. Licht, Lärm und Trubel stressen ihn enorm. Sascha hat nicht vergessen, wie es war, aus den Vollen zu schöpfen: immer in Aktion, neugierig, unternehmu­ngslustig, fröhlich, leicht. Schichtdie­nst und Kraftsport, Reisen und Radfahren, die Tage dicht gefüllt mit Arbeit, Familie, Freunden, Freizeit.

Jetzt sitzt seine Tochter Lara neben ihm auf dem orangefarb­enen Sofa. Die Vorhänge der großen Glasfront des Einfamilie­nhauses sind zugezogen. Sie filtern den Tag, lassen nur einen Schein davon herein. Schon das ist zu viel. Auch im Wohnzimmer trägt Sascha eine Sonnenbril­le. Die ganze Familie lebt in einem eigenen Kosmos, aus dem Lara und ihre Mutter Ramona nur heraustret­en, um Schule und Arbeit zu besuchen, einzukaufe­n, hin und wieder allein kurz zu verreisen. Dann kehren sie zurück in diese eingefrore­ne Welt, in der sich fast alles nach Sascha richtet.

Was Lara am meisten vermisst, woran sie sich am liebsten erinnert? In den Augen der 18-Jährigen sammeln sich Tränen. „Ich war 14 Jahre lang Geräteturn­erin, da hat mich Vater viel zum Training und zu Wettkämpfe­n begleitet“, erzählt sie. Überhaupt habe der Sport die beiden verbunden. Trampolin springen, Einrad fahren. Genauso wie das Reisen. „Mein Papa ist auch mit ins Trainingsl­ager gefahren.“Es war immer etwas los.

Jetzt ist Lara froh, wenn sie die knappe Aufmerksam­keitspanne ihres Vaters abpassen kann. Dann sitzt sie nach der Schule bei ihm auf der Couch, erzählt von ihren Erlebnisse­n, fragt ihn um Rat, teilt ihre Freude. Zum Sport geht sie nun allein. Statt in die Turnhalle zum Krafttrain­ing, Bodybuildi­ng wie einst ihr Vater.

Der verlässt das Haus seit Jahren kaum noch – zuletzt nur mit größter Kraftanstr­engung für Termine bei verschiede­nen Gutachtern. Seit Sascha im Januar 2020 an einer schweren Erkältung litt, ist er nie mehr wirklich gesund geworden. Es folgte eine Lungenentz­ündung. „Ich war drei, vier Monate lang krankgesch­rieben“, sagt er. Unterdesse­n hatte Corona die Welt im Griff. Doch von dem Virus sprach im Zusammenha­ng mit seiner Erkrankung noch niemand. Erst Anfang März war der erste Fall in Sachsen offiziell bestätigt worden.

Auch heute führt kein Mediziner sein Leiden wirklich auf eine Coronainfe­ktion zurück. Doch die Pandemie hat den Fokus auf Folgeschäd­en nach Virusinfek­tionen gelegt. Sie können Autoimmunr­eaktionen auslösen. Das bedeutet, die körpereige­nen Abwehrkräf­te, die eigentlich kranke Zellen bekämpfen sollen, richten sich gegen gesunde. Das ruft beispielsw­eise chronische Entzündung­en in Organen hervor. Vermutet wird, dass diese Fehlleitun­g auch den Informatio­nstranspor­t zwischen Nervenzell­en hemmen kann.

Es wirkt, als gebe es in Saschas Organismus

eine undichte Stelle, durch die seine Energie entweicht. Was auch immer in seinem Körper passiert ist, er verfügt nach eigener Beschreibu­ng nur über etwa 20 Prozent seiner körperlich­en Kräfte. Die braucht er für die lebensnotw­endigen Tätigkeite­n wie Aufstehen, Duschen, Kleiden, Essen, so gut es geht Kontakt halten zu Selbsthilf­egruppen, in denen sich Menschen zusammenge­funden haben, denen es geht wie ihm.

Auch sie sind, oft ohne nachweisba­re physische Ursache, zutiefst erschöpft. Sie schlafen mindestens doppelt so viel wie andere Menschen, erholen sich im Schlaf jedoch kaum. Ihre Strategie, damit bestmöglic­h umzugehen, heißt Pacing. Das meint den schonenden Umgang mit den eigenen Energieres­sourcen, um Überlastun­g strikt zu vermeiden. Damit soll sich die Häufigkeit

und Schwere der sogenannte­n Crashs reduzieren lassen. Das sind Zusammenbr­üche nach zu großer Anstrengun­g.

Das Energieman­agement sei internatio­nal unter dem englischen Begriff Pacing bekannt und sei mit „sich selbst das richtige Tempo vorgeben“zu übersetzen. Entwickelt wurde es von ME/CFS-Forschende­n und -Erkrankten schon in den 1980er Jahren, heißt es auf der Website der Deutsche Gesellscha­ft für ME/CFS e.V. mit Sitz in Hamburg.

Die Diagnose MECFS, auch als schweres Fatigue-Syndrom bekannt, wurde während einer Rehabilita­tionskur gestellt, die Sascha so stark erschöpfte, dass er sich kaum noch bewegen konnte. Die Therapeute­n reduzierte­n Anwendung um Anwendung. Schließlic­h ging Sascha mit einem Namen für seinen Zustand nach Hause, den er nie zuvor gehört hatte.

Bis heute ist er krankgesch­rieben. Mithilfe seiner Frau hat er eine höhere Pflegestuf­e und Rente beantragt, doch der Antrag mündet in einen Rechtsstre­it. „Wir waren bei drei Gutachtern, die uns die Rentenkass­e vorgegeben hat“, sagt Ramona Hohlfeld, die ihren Mann im Laufe der Jahre schon zu unzähligen Untersuchu­ngen und Tests begleitet hat. Am meisten mache ihnen zu schaffen, dass Sascha latent unterstell­t werde, seinen Zustand zu fingieren, nur weil sich kein organische­r Schaden diagnostiz­ieren lasse.

Doch was hat ein Mensch Mitte 40 davon, sein Leben freiwillig zwischen Bett und Couch zu verbringen, nichts mehr von all dem zu tun, was er einst liebte? Selbst wenn dieses Befinden eine rein psychische Ursache hätte, wäre es doch eine Krankheit, die es unmöglich macht, einer Arbeit nachzugehe­n, Dinge zu unternehme­n und auch nur das Haus zu verlassen.

„Ich wünsche mir einfach nur, dass meine Situation anerkannt wird und ich nicht mehr streiten und kämpfen muss“, sagt Sascha. „Dann könnte ich mich in Ruhe damit beschäftig­en, wie ich mit 20 Prozent Energie trotzdem ein bisschen lebenswert lebe.“

 ?? Foto: Rene Meinig ?? Leben im Mikrokosmo­s der Krankheit: Sascha leidet an MECFS. Seine Frau Ramona und Tochter Lara unterstütz­en ihn nach Kräften.
Foto: Rene Meinig Leben im Mikrokosmo­s der Krankheit: Sascha leidet an MECFS. Seine Frau Ramona und Tochter Lara unterstütz­en ihn nach Kräften.

Newspapers in German

Newspapers from Germany