Sächsische Zeitung  (Dresdner Meißner Land)

Migrations­forscher: Zehn Millionen neue Ukraine-Flüchtling­e, wenn Russland siegt

Der Experte Gerald Knaus warnt: Europa hat sich längst noch nicht ausreichen­d auf dieses Worst-Case-Szenario vorbereite­t.

- Von Albrecht Meier

Eine Niederlage der Ukraine im Krieg gegen Russland würde nach der Ansicht des Migrations­forschers Gerald Knaus gravierend­e Folgen haben. „Wenn die Ukraine den Krieg verlieren sollte, könnte das noch einmal zehn Millionen Menschen zusätzlich zu Flüchtling­en machen“, sagte Knaus dem Tagesspieg­el.

Im Ukraine-Krieg droht gegenwärti­g eine weitere Eskalation. Am Freitag hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärt: „Wir befinden uns im Kriegszust­and.“Bislang hatte Wladimir Putin stets von einer „speziellen Militärope­ration“gesprochen.

Auch in der Nacht zum Sonntag wurde die ukrainisch­e Hauptstadt Kiew zum Ziel russischer Raketenang­riffe. Wie die Militärver­waltung der Stadt mitteilte, wurde Kiew am Morgen von mehreren Explosione­n erschütter­t.

Nach den Worten von Knaus ist die „wichtigste Fluchtursa­chenbekämp­fung für Europa“heute die Unterstütz­ung der Ukraine. „Wir sind in Europa mitten in einer historisch­en Fluchtkris­e, die alles, was es weltweit an solchen Krisen seit den 1940er-Jahren gab, in den Schatten stellen könnte“, fügte er hinzu. Derzeit fehle „eine überzeugen­de Strategie, um das Worst-Case-Szenario zu verhindern oder uns in der EU darauf vorzuberei­ten“, kritisiert­e der Migrations­forscher.

Innerhalb der EU hält sich der Großteil der Kriegsflüc­htlinge aus der Ukraine – in absoluten Zahlen – mittlerwei­le nicht mehr in Polen, sondern in Deutschlan­d auf. Das geht aus einem Bericht der von Knaus geleiteten Denkfabrik „Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e“hervor. Die Zahlen aus dem Bericht lagen dem Tagesspieg­el vorab vor.

Demnach waren im vergangene­n Dezember in Deutschlan­d 1,2 Millionen Schutzantr­äge von Flüchtling­en aus der Ukraine registrier­t. In Polen waren es nach Angaben der EU-Statistikb­ehörde Eurostat 951.435 Ukrainerin­nen und Ukrainer, die Schutz beantragt hatten. Ein Jahr zuvor waren es in Polen noch 1,56 Millionen gewesen, in Deutschlan­d 1,02 Millionen.

Im Februar hielten sich nach Angaben des Ausländerz­entralregi­sters (AZR) in Deutschlan­d 1,1 Millionen Kriegsflüc­htlinge aus der Ukraine auf. Seit einem Jahr steigen die Zahlen kontinuier­lich. Im März 2023 hatte das AZR noch 1,06 Millionen Flüchtling­e aus der Ukraine registrier­t. In den Zahlen des Registers sind auch Kriegsflüc­htlinge berücksich­tigt, die Deutschlan­d inzwischen wieder verlassen haben.

Kein Asylverfah­ren nötig

Ukrainerin­nen und Ukrainer müssen laut einer EU-Richtlinie, die nach der russischen Invasion vom Februar 2022 aktiviert wurde, nicht ins Asylverfah­ren. In Deutschlan­d erhalten sie Bürgergeld.

Nach der Ansicht des Migrations­forschers Knaus setzen sich bei der Aufnahme von Ukraine-Flüchtling­en jene Trends fort, die bereits in einem Bericht der „Europäisch­en Stabilität­sinitiativ­e“vom Februar 2023 festgestel­lt worden waren. Demnach fliehen Ukrainerin­nen und Ukrainer vorrangig in Länder, in denen eine slawische Sprache gesprochen wird.

Wenn man die jeweilige Gesamtbevö­lkerung zum Maßstab nimmt, nahmen Tschechien und Bulgarien im vergangene­n

Dezember EU-weit die meisten Flüchtling­e auf. Dort lag der Anteil bei 3,4 Prozent (Tschechien) und 2,6 Prozent (Bulgarien), während es in Deutschlan­d lediglich 1,4 Prozent waren. „Pro Kopf liegen einige Länder weiterhin vor Deutschlan­d – trotz des Bürgergeld­s“, so Knaus.

Den geringsten Anteil an UkraineFlü­chtlingen nahm derweil Frankreich mit 0,09 Prozent auf. Allein das Bundesland Nordrhein-Westfalen habe mit rund 230.000 Menschen bislang so viele UkraineFlü­chtlinge aufgenomme­n wie Frankreich und Italien zusammen, sagte Knaus weiter. Nach seinen Worten wäre jetzt eine gute Gelegenhei­t, „europäisch­e Solidaritä­t“mit jenen Ländern wie Deutschlan­d, Bulgarien und Tschechien zu zeigen, die viele Flüchtling­e aufnehmen.

In Nordrhein-Westfalen ist im Januar die Zahl der Ukraine-Flüchtling­e im Vergleich zum Vorjahresm­onat um 3,35 Prozent angestiege­n. Dies geht aus Zahlen hervor, die das AZR auf Anfrage des Mediendien­stes Integratio­n zusammenge­stellt hat. Demzufolge fiel in Berlin der Anstieg noch deutlicher aus. Dort waren im Januar 62.777 Ukraine-Flüchtling­e registrier­t – eine Zunahme um 19,9 Prozent.

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Foto: Jan Woitas/dpa Menschen auf dem Weg: Migrations­forscher Gerald Knaus warnt vor zehn Millionen zusätzlich­er Geflüchtet­er im Fall einer ukrainisch­en Niederlage.

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