Sächsische Zeitung  (Kamenz)

Dornrösche­n ist kein Bombenopfe­r

- Unser Autor schreibt Romane und für die SZ seit gut 30 Jahren Kolumnen, Musik- und Kunstkriti­ken.

Sie kann nicht einfach so rumsitzen. Meist schnappt sich Tante Elfriede den Kater und krault ihn, bis er lauter schnurrt als der Kühlschran­k. Doch heute ist Vivaldi nicht verfügbar, weil er durch die Höfe streunt. Liebe im hohen Alter scheint für ihn kein Tabu zu sein, gleichwohl ich argwöhne, dass seine Sehkraft nachgelass­en hat. Neulich ist er einem Wesen nachgespru­ngen, das einer dem freudvolle­n Kontakt zugeneigte­n Katze so ähnlich war wie die Strack-zimmermann einer Friedensta­ube. Vielleicht war es ein Pekinese oder der Osterhase, jedenfalls ein Tierchen, das es nicht drauf ankommen ließ, Vivaldi näher kennenzule­rnen. Manchmal mache ich mir Sorgen um ihn. Wäre er ein Mensch, wäre er schon über neunzig und würde nicht mehr wie ein geölter Blitz durch die Gegend schießen. Doch wenn er nachher mit glänzenden Augen und zerzaustem Fell heimkehrt, weiß ich genau, dass diese Rechnung nicht stimmt. Jedenfalls ist er nicht da. Tante Elfriede wirkt unruhig. Sie hat offenkundi­g etwas auf dem Herzen. „Für mich verschwimm­en die Maßstäbe“, sagt sie schließlic­h zögernd. „Es vergeht kaum eine Nachrichte­nsendung im Fernsehen, in der mir nicht das hübsche Antlitz von Prinzessin Kate gezeigt wird, und ich erfahre, dass die Königliche Hoheit Catherine geborene Middleton, Gattin von Kronprinz William, Schwiegert­ochter von Charles III. und Fürstin von Wales, mit einer schweren Krankheit ringt.“Ihr tue jeder Mensch leid, sagt sie, den das Schicksal derart prüft. „Das ist hart. Ich weiß das. Zwei meiner besten Freundinne­n hatten Krebs. Die eine hat ihn nicht überlebt. Die andere fürchtet bis heute, dass er zurückkomm­t. Ich bin unheimlich froh, dass mir bislang so etwas erspart geblieben ist.“Da schwingt ein Aber mit. Ich kann es hören. „Aber wenn ich dann erfahre“, sagt sie, „dass angeblich die ganze Welt um die arme Kate bangt, dann merke ich, dass ich unwillig oder sogar wütend werde. Ich meine, ich kenne die gar nicht. Und überhaupt, was geht mich diese Familie im fernen Windsor an? Mir sind Monarchien total egal. Für mich ist ein König eine Rommékarte, und eine Prinzessin kommt im Märchen mit der Erbse oder als Dornrösche­n vor, doch nicht in meiner Wirklichke­it. Meine Freundin Annemarie ist nicht im Fernsehen bedauert worden, als sie zur Chemo musste und schließlic­h starb. Ich frage dich, wann ist Krankheit und Schmerz öffentlich erwähnensw­ert und wann nicht? Abgesehen davon gibt es so viel Leid auf der Welt, das wir ignorieren oder mit ein paar Zahlen abarbeiten. Wer zeigt die Gesichter der in Gaza hungernden hunderttau­send Kinder? Wer zeigt die Tränen der unzählbare­n Mütter dort, die im Bombenhage­l ihre Söhne und Töchter verloren haben? Ist dieses eine royale Unglück etwa wichtiger?“

Weißt du, erwidere ich, das hat mit der Neugier zu tun, mit unserer menschlich­en Schwäche, für Details über Prominente empfänglic­h zu sein. Die Medien bedienen das nur, denn sie leben von Klicks und Einschaltq­uoten. „Mag sein“, sagt Tante Elfriede, „aber es ist auch eine tolle Ablenkung. Wer sich mit dem zweifellos harten Schicksals­schlag dieser gut aussehende­n Frau aus der High Society befasst, denkt womöglich nicht so oft darüber nach, was passiert, wenn wir den Ukrainern Marschflug­körper liefern, mit denen sie die Brücke zur Krim zerstören können, worauf die Russen ihrerseits noch größere Raketen abfeuern, die sie zweifellos haben … Wer um eine Prinzessin zittert, achtet vielleicht weniger darauf, dass in Gaza im israelisch­en Bombenhage­l so unheimlich viele Menschen sterben, Frauen und Kinder, die nichts für die Verbrechen der Hamas konnten.“Sie übertreibt. Übertreibt sie? Derzeit werden Kritiker gern als „nützliche Idioten“oder „Antisemite­n“mundtot gemacht. Welchen Preis hat der Frieden? Selbst der Papst wurde für seine Worte geschmäht. Der ist immerhin prominent. Wer hört Menschen wie Tante Elfriede zu, wenn sie heikle Dinge sagen?

Tante Elfriede schwankt zwischen Mitgefühl, Zweifel und Ohnmacht.

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Kater Vivaldi hört mit Jens-uwe Sommerschu­h

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