„Oh Mensch, bewein dein’ Sünde groß“
Große Dramatik, tiefsinnige Reflexion, schlichte gläubige Annahme: Die Matthäus-passion mit dem Dresdner Kreuzchor war ein bewegendes Ereignis.
Die Matthäus-passion ist großes Kino. Mel Gibson hat sie vor zwanzig Jahren spektakulär verfilmt. Im Privatfernsehen gibt es aktuell eine aufwendige Musical-produktion zu sehen. In der Dresdner Kreuzkirche erklang wie jedes Jahr die Vertonung von Johann Sebastian Bach. Die Leidensgeschichte Jesu, hier dem Text des Evangelisten Matthäus folgend, hat viele Facetten. Bachs Interpretation schlägt den Bogen von großer Dramatik über tiefsinnige Reflexion bis zu schlichter gläubiger Annahme.
Für den Dresdner Kreuzchor sind die Aufführungen der Matthäus-passion am Gründonnerstag und Karfreitag eingespieltes Ritual. Es ist eine bewundernswerte Leistung der jungen Sänger, dieses Werk so eindrucksvoll von der ersten intensiven Klagebitte bis zum letzten Akkord der Grabesruhe zu gestalten. Die Kontinuität und Verlässlichkeit, mit der sie das tun, verführt, das als selbstverständlich hinzunehmen. Aber wie differenziert sie die unterschiedlichen Ebenen gestalten! Wie sie etwa im „Weissage uns!“oder im Choral „Oh Haupt voll Blut und Wunden“dynamische Kontraste zum Klingen bringen! Die Klangkultur und Textverständlichkeit des Chores sind höchstes Niveau.
Strahlende Höhe, klangvolle Tiefe
Die Gründonnerstagsaufführung begann eher verhalten. Kreuzkantor Martin Lehmann hat sehr genaue Intentionen und Interpretationslinien. Mit dem Einsatz von Tobias Berndt, der Jesus’ Angst am Ölberg reflektiert, bekommt das Konzert dramatischen Schwung. Seine Bassarien und die Gestaltung des Pilatus waren herzbewegend. Neben der strahlenden Höhe konnte er klangvolle Tiefe entfalten.
Auch Benedikt Kristjánsson gestaltete den Evangelisten ungewohnt dramatisch aus. Der Tenor hat viel Wärme, beeindruckende Registerwechsel und eine mutig eingesetzte weiche Kopfstimme. Überaus beeindruckend werden so der Verrat des Petrus und die darauffolgende Trauer in der Selbsterkenntnis „und weinete bitterlich“zu einem dramatischen Höhepunkt der Aufführung.
Mit großer Emphase schließt Jonathan Mayenschein die Bitte um Erbarmen an, die jeden, der zuhört und mitgeht, betrifft. Kreuzkantor Lehmann, der in der ganzen Aufführung sicher und genau die Kontrolle über das Geschehen wahrt, lässt hier emotional berührender Gestaltung Raum.
Menschliches Versagen, Schuld, ja sogar Verrat bergen die Möglichkeit umzukehren. „Ich verleugne nicht die Schuld, aber deine Gnad und Huld ist viel größer als die Sünde“. Wer sein Schuldigwerden nicht verleugnet, kann Vergebung bekommen.
Diese tröstliche Erkenntnis bekommt ihre überirdische Entsprechung in der Sopranarie, die Bach mitten in die Dramatik der unmittelbaren Verurteilung stellt. Jesus stirbt tatsächlich ohne Schuld. „Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts.“Die geradlinig geführte, klare Stimme von Marie-sophie Pollak passt geradezu kongenial zu dieser sphärischen Liebesbotschaft, vor der der Mensch fassungslos, quasi mit offenem Mund steht. Schon im Duett zwischen Altus und Sopran „So ist mein Jesus nun gefangen“hat der Zusammenklang der beiden gut miteinander harmonierenden Stimmen direkt ergriffen. Klaus Häger sang den Jesus anfangs unnötig forcierend.
Aus der wieder verlässlich klangvoll musizierenden Philharmonie und ihren tollen Solisten seien Wolfgang Hentrichs gefühlvolles Solo in „Erbarme dich, mein Gott“und das zupackende, temperamentvoll die Gestaltung prägende Solo von Julia Suslov-wegelin in der Bassarie „Gebt mir meinen Jesum wieder!“herausgehoben.
In andächtiger Stille endete die Passion. Das ist mehr als großes Kino.