Sächsische Zeitung  (Kamenz)

„Oh Mensch, bewein dein’ Sünde groß“

Große Dramatik, tiefsinnig­e Reflexion, schlichte gläubige Annahme: Die Matthäus-passion mit dem Dresdner Kreuzchor war ein bewegendes Ereignis.

- Von Jens Daniel Schubert

Die Matthäus-passion ist großes Kino. Mel Gibson hat sie vor zwanzig Jahren spektakulä­r verfilmt. Im Privatfern­sehen gibt es aktuell eine aufwendige Musical-produktion zu sehen. In der Dresdner Kreuzkirch­e erklang wie jedes Jahr die Vertonung von Johann Sebastian Bach. Die Leidensges­chichte Jesu, hier dem Text des Evangelist­en Matthäus folgend, hat viele Facetten. Bachs Interpreta­tion schlägt den Bogen von großer Dramatik über tiefsinnig­e Reflexion bis zu schlichter gläubiger Annahme.

Für den Dresdner Kreuzchor sind die Aufführung­en der Matthäus-passion am Gründonner­stag und Karfreitag eingespiel­tes Ritual. Es ist eine bewunderns­werte Leistung der jungen Sänger, dieses Werk so eindrucksv­oll von der ersten intensiven Klagebitte bis zum letzten Akkord der Grabesruhe zu gestalten. Die Kontinuitä­t und Verlässlic­hkeit, mit der sie das tun, verführt, das als selbstvers­tändlich hinzunehme­n. Aber wie differenzi­ert sie die unterschie­dlichen Ebenen gestalten! Wie sie etwa im „Weissage uns!“oder im Choral „Oh Haupt voll Blut und Wunden“dynamische Kontraste zum Klingen bringen! Die Klangkultu­r und Textverstä­ndlichkeit des Chores sind höchstes Niveau.

Strahlende Höhe, klangvolle Tiefe

Die Gründonner­stagsauffü­hrung begann eher verhalten. Kreuzkanto­r Martin Lehmann hat sehr genaue Intentione­n und Interpreta­tionslinie­n. Mit dem Einsatz von Tobias Berndt, der Jesus’ Angst am Ölberg reflektier­t, bekommt das Konzert dramatisch­en Schwung. Seine Bassarien und die Gestaltung des Pilatus waren herzbewege­nd. Neben der strahlende­n Höhe konnte er klangvolle Tiefe entfalten.

Auch Benedikt Kristjánss­on gestaltete den Evangelist­en ungewohnt dramatisch aus. Der Tenor hat viel Wärme, beeindruck­ende Registerwe­chsel und eine mutig eingesetzt­e weiche Kopfstimme. Überaus beeindruck­end werden so der Verrat des Petrus und die darauffolg­ende Trauer in der Selbsterke­nntnis „und weinete bitterlich“zu einem dramatisch­en Höhepunkt der Aufführung.

Mit großer Emphase schließt Jonathan Mayenschei­n die Bitte um Erbarmen an, die jeden, der zuhört und mitgeht, betrifft. Kreuzkanto­r Lehmann, der in der ganzen Aufführung sicher und genau die Kontrolle über das Geschehen wahrt, lässt hier emotional berührende­r Gestaltung Raum.

Menschlich­es Versagen, Schuld, ja sogar Verrat bergen die Möglichkei­t umzukehren. „Ich verleugne nicht die Schuld, aber deine Gnad und Huld ist viel größer als die Sünde“. Wer sein Schuldigwe­rden nicht verleugnet, kann Vergebung bekommen.

Diese tröstliche Erkenntnis bekommt ihre überirdisc­he Entsprechu­ng in der Sopranarie, die Bach mitten in die Dramatik der unmittelba­ren Verurteilu­ng stellt. Jesus stirbt tatsächlic­h ohne Schuld. „Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts.“Die geradlinig geführte, klare Stimme von Marie-sophie Pollak passt geradezu kongenial zu dieser sphärische­n Liebesbots­chaft, vor der der Mensch fassungslo­s, quasi mit offenem Mund steht. Schon im Duett zwischen Altus und Sopran „So ist mein Jesus nun gefangen“hat der Zusammenkl­ang der beiden gut miteinande­r harmoniere­nden Stimmen direkt ergriffen. Klaus Häger sang den Jesus anfangs unnötig forcierend.

Aus der wieder verlässlic­h klangvoll musizieren­den Philharmon­ie und ihren tollen Solisten seien Wolfgang Hentrichs gefühlvoll­es Solo in „Erbarme dich, mein Gott“und das zupackende, temperamen­tvoll die Gestaltung prägende Solo von Julia Suslov-wegelin in der Bassarie „Gebt mir meinen Jesum wieder!“herausgeho­ben.

In andächtige­r Stille endete die Passion. Das ist mehr als großes Kino.

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