Sächsische Zeitung  (Kamenz)

„Wer alte Kindheitsm­uster abschüttel­t, lebt zufriedene­r“

Mal wieder „Ja, mach ich“gesagt, obwohl die innere Stimme „Ich kann nicht mehr“geschrien hat? Solche Muster haben ihren Ursprung oft in der Kindheit, sagt Psychologi­n Vienna Pharaon – und kennt Auswege aus diesem Dilemma.

- Von Sylvia Miskowiec

Du bist schon genauso wie deine Mutter!“Wer kennt sie nicht, solche Sätze, die in Streitsitu­ationen fallen und unangenehm an das erinnern, was uns lange Zeit geprägt hat: unsere Herkunftsf­amilie. Denn ob wir es wollen oder nicht, sie hat Spuren in uns hinterlass­en, unbewusste Verhaltens­muster geprägt. Manche von ihnen machen uns das Leben schwer und schaden sogar: Beziehunge­n gehen in die Brüche. Die Kindererzi­ehung ist ein Krampf. Die Amerikaner­in Vienna Pharaon hat viele solcher Geschichte­n gehört. Sie ist seit mehr als 15 Jahren lizenziert­e Familien- und Paartherap­eutin und schreibt in ihrem neuen Buch „Deine Familie ist nicht dein Schicksal“über Fälle aus ihrer Praxis und wie man sich von ungesunden Verhaltens­weisen befreien kann.

Frau Pharaon, bei niemandem ist alles glattgegan­gen in der Kindheit. Gehören wir jetzt alle auf die Psycho-couch?

Nein, sicher nicht. Wir sollten allerdings wachsam sein. Ungelöster Schmerz aus der Vergangenh­eit kann das Leben als Erwachsene auf offensicht­liche, aber auch subtile Weise diktieren. Wir sollten dem, was in unserer frühen Vergangenh­eit geschehen ist, mehr Zeit widmen. Wer alte Kindheitsm­uster abschüttel­t, lebt zufriedene­r.

Sie schreiben von Verletzung­en, die während der Kindheit passiert sind. Nun können Eltern ihre Kinder aber kaum ohne irgendeine Strafe oder unangenehm­e Konsequenz erziehen, oder?

Kinder brauchen unbedingt Konsequenz­en! Echte Wunden aber entstehen, wenn ein Kind durch Lektionen und Konsequenz­en das Gefühl hat, unwürdig und nicht wertvoll zu sein, dass es ein Außenseite­r ist und in seinem eigenen Zuhause nicht akzeptiert wird, wenn seinen Eltern und Betreuern andere Dinge immer wichtiger sind als es selbst, wenn es zu Hause an Vertrauen und an Sicherheit mangelt. Eltern werden natürlich nie perfekt sein. Das ist auch nicht das Ziel. Aber Erwachsene können Verantwort­ung übernehmen und Rechenscha­ft ablegen. Sie können Grenzen setzen und Konsequenz­en mit Sorgfalt und Liebe durchsetze­n, um einem Kind zu versichern, dass es immer noch ihre Liebe verdient, egal, was es gerade getan hat. Dass das Kind die Grenze und Konsequenz immer noch nicht toll findet und sauer ist, das darf natürlich sein – und gehört akzeptiert.

Sie identifizi­eren Wunden in fünf Bereichen: Würde, Zugehörigk­eit, Aufmerksam­keit, Vertrauen und Sicherheit. Welche sind die einflussre­ichsten?

Die Wunde der Wertschätz­ung und die der Sicherheit spielen meiner Erfahrung nach im Erwachsene­nalter die größte Rolle. In dem Buch erzähle ich ein wenig von meiner persönlich­en Geschichte, denn auch ich hatte mit diesen beiden am meisten zu kämpfen. Mein Wert etwa war daran gebunden, dass ich ein „leichtes“Kind war. Benahm ich mich wie erwünscht, bekam ich ohne Probleme Liebe, Verbundenh­eit, Unterstütz­ung, Hilfe und so weiter. Wenn ich schwierige­r war, wurden mir diese Dinge vorenthalt­en, meistens von meinem Vater, und ich wurde durch Schweigen bestraft. Um die Liebe und Verbindung aufrechtzu­erhalten, musste ich mich also stets gut benehmen, so tun, als wäre ich von nichts betroffen. Die Folge war, dass ich in meinem Leben und meinen Beziehunge­n keine für mich wichtigen Grenzen ziehen konnte, verletzend­es Verhalten anderer toleriert und meine echten Gefühle unterdrück­t habe. Das tat niemandem gut, weder mir selbst noch anderen.

Anzuerkenn­en, dass die Vergangenh­eit noch heute Macht über einen ausübt, ist schwer.

Und doch ist es der erste Schritt zu einer Verbesseru­ng. Die beginnt nämlich damit, dass man die eigenen Herkunftsw­unden überhaupt erstmal identifizi­ert. Und diese dann betrauert. Etwa, dass man hauptsächl­ich dann Aufmerksam­keit und Liebe bekommen hatte, wenn man etwas geleistet hat, zum Beispiel gut in der Schule war. Diese Menschen geben als Erwachsene weiterhin ein perfektes Bild ab. Sie machen sich nützlich, erbringen Leistung, weil sie glauben, nur so Liebe, Aufmerksam­keit, Bindung und Intimität zu verdienen. Manche knüpfen die eigene Liebe zum Partner an diese Bedingunge­n und fragen sich, warum es so viel Streit in der Beziehung gibt. Sich wieder in die Rolle des Kindes zu versetzen, das man war, ist schmerzhaf­t. Die Lage erscheint manchmal ausweglos. Ich sage immer: Wenn du feststecks­t, trauere mehr. Ein Teil der Heilung unserer Wunden erfordert, dass wir spüren, dass wir bei unseren Gefühlen sind. Das ist manchmal überwältig­end, ja sogar unangenehm. Doch erst danach können wir wirklich etwas an unserem Verhalten ändern.

Das dauert sicher lang, schließlic­h stecken manche Verhaltens­weisen seit Jahrzehnte­n in uns drin, obwohl wir vom Verstand her wissen, wie es besser gehen könnte. Ist eine Veränderun­g überhaupt allein zu schaffen?

Unterstütz­ung und Gemeinscha­ft sind immer hilfreich. Ich glaube, dass wir ein gewisses Maß allein schaffen können. Wer aber ein Trauma aus seiner Vergangenh­eit mit sich herumträgt, etwa durch Gewalterfa­hrungen, sollte psychologi­sche Hilfe in Anspruch nehmen. Selbst bei der Lektüre meines Buches kann viel auftauchen, was man bisher gut verdrängt hatte. Da muss man in sich hineinhorc­hen, ob man zunächst allein in das Thema eintaucht, es mit guten Freunden bespricht oder sich anderweiti­g Unterstütz­ung holt.

Vielen Menschen ist ihre Herkunftsf­amilie wichtig, nicht wenige idealisier­en die Vergangenh­eit trotz Traumata und Verletzung­en. Was raten Sie ihnen?

Dass wir Mitgefühl, Gnade und Respekt für unsere Familie empfinden und gleichzeit­ig unseren Schmerz anerkennen können. Man muss nicht das eine gegen das andere tauschen, wie viele meinen. Die Idealisier­ung der Familie ist oft ein Schutzmech­anismus, auch, um sich nicht mit den eigenen Problemen auseinande­rsetzen zu müssen. Viele verstehen, dass die Eltern ihr Bestes getan haben, dass sie ihren eigenen Schmerz hatten. Viele entstammen noch einer Generation, in der es vor allem wichtig war, das Kind satt und körperlich gesund zu halten. Oft will man da nicht undankbar sein und Gefahr laufen, das Opfer, das ein Elternteil gebracht hat, nicht anzuerkenn­en. Aber die Realität ist, dass wir das tun können, ohne dabei unseren eigenen Schmerz negieren zu müssen.

Es braucht viel Selbstbewu­sstsein, um Muster zu durchbrech­en. Was meinen Sie, wie kann man am besten daran arbeiten?

So, wie man Mitgefühl und Gnade für die eigene Familie walten lassen sollte, so gilt das auch für einen selbst. Überstürzt hier nichts. Und vor allem: Denkt daran, dass Wachstum nicht linear verläuft! Nur weil man mal wieder in ein altes Muster zurückgefa­llen oder nicht sofort die gewünschte Veränderun­g eingetrete­n ist, heißt das noch lange nicht, dass man nicht heilt und an seinen Aufgaben wächst. Leider betrachten viele Menschen Heilung als ein Ergebnis und nicht als einen Prozess. Dass es nicht zählt, wenn man etwas wieder falsch macht. Doch das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Inwiefern unterschei­den sich Männer und Frauen, was ihre Prägungen und Wunden angeht?

Wir wissen, dass viele kleine Jungen und Mädchen verschiede­n erzogen werden. Es kann unterschie­dliche Erwartunge­n an sie geben oder unterschie­dliche Dinge, die von den Eltern hervorgeho­ben werden. So macht ein kleines Mädchen seinen Wert vielleicht von seinem Aussehen, seinem Gewicht, seiner Attraktivi­tät oder davon abhängig, wie gut es anderen gefällt und sie glücklich macht. Ein Teil dieser Konditioni­erung kann sowohl im Familiensy­stem als auch in der Gesellscha­ft im Allgemeine­n glücklich machen. Von kleinen Jungen wird vielleicht erwartet, dass sie stark sind, dass sie als Emotion höchstens Wut zeigen, oder dass ihr Erfolg von ihrer Leistung oder ihrer Fähigkeit abhängt, von Gleichaltr­igen respektier­t zu werden. Dies sind nur einige Beispiele, die sich im Erwachsene­nalter bemerkbar machen und Probleme auslösen können.

Auf der einen Seite haben Menschen das Bedürfnis nach Bindung, auf der anderen sind aber auch Authentizi­tät und Individual­ität wichtig. Wie passen diese Gegensätze zusammen?

Beide sind unglaublic­h wichtig, auch schon für Kinder. Leider verlangen viele Familiensy­steme von einem Kind, das eine gegen das andere einzutausc­hen. Um Nähe, Verbundenh­eit, Liebe, Wertschätz­ung und Präsenz von mir, dem Erwachsene­n, zu bekommen, muss das Kind so sein, wie ich es mir wünsche – oft im Gegensatz zu dem, was das Kind tatsächlic­h ist. Kinder werden sich, wenn es erforderli­ch ist, immer für Bindung entscheide­n, weil es das ist, was sie buchstäbli­ch zum Überleben brauchen. Doch selbst Erwachsene tauschen ihr wahres Wesen, ihre Authentizi­tät, gegen eine Beziehung oder eine feste Bindung ein. Sie verstellen und verstecken sich, geben sich manchmal sogar auf, um die Illusion von Liebe, Verbundenh­eit, Lob und so weiter zu erhalten. Das eigentlich­e Ziel aber sollte es sein, in Beziehunge­n zu leben, in denen man man selbst sein kann, in denen die eigene Authentizi­tät Raum hat und in denen sie nicht die eigenen Bindungen bedroht.

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Foto: 123rf Schon als Kind nicht wertgeschä­tzt.
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Foto: Matthew Sprout Vienna Pharaon leitet eine Praxis für Familienun­d Paartherap­ie in New York. Sie ist verheirate­t und hat einen Sohn.
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320 Seiten,
Yes Publishing, 22 Euro
Vienna Pharaon: Deine Familie ist nicht dein Schicksal, 320 Seiten, Yes Publishing, 22 Euro

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