„Wer alte Kindheitsmuster abschüttelt, lebt zufriedener“
Mal wieder „Ja, mach ich“gesagt, obwohl die innere Stimme „Ich kann nicht mehr“geschrien hat? Solche Muster haben ihren Ursprung oft in der Kindheit, sagt Psychologin Vienna Pharaon – und kennt Auswege aus diesem Dilemma.
Du bist schon genauso wie deine Mutter!“Wer kennt sie nicht, solche Sätze, die in Streitsituationen fallen und unangenehm an das erinnern, was uns lange Zeit geprägt hat: unsere Herkunftsfamilie. Denn ob wir es wollen oder nicht, sie hat Spuren in uns hinterlassen, unbewusste Verhaltensmuster geprägt. Manche von ihnen machen uns das Leben schwer und schaden sogar: Beziehungen gehen in die Brüche. Die Kindererziehung ist ein Krampf. Die Amerikanerin Vienna Pharaon hat viele solcher Geschichten gehört. Sie ist seit mehr als 15 Jahren lizenzierte Familien- und Paartherapeutin und schreibt in ihrem neuen Buch „Deine Familie ist nicht dein Schicksal“über Fälle aus ihrer Praxis und wie man sich von ungesunden Verhaltensweisen befreien kann.
Frau Pharaon, bei niemandem ist alles glattgegangen in der Kindheit. Gehören wir jetzt alle auf die Psycho-couch?
Nein, sicher nicht. Wir sollten allerdings wachsam sein. Ungelöster Schmerz aus der Vergangenheit kann das Leben als Erwachsene auf offensichtliche, aber auch subtile Weise diktieren. Wir sollten dem, was in unserer frühen Vergangenheit geschehen ist, mehr Zeit widmen. Wer alte Kindheitsmuster abschüttelt, lebt zufriedener.
Sie schreiben von Verletzungen, die während der Kindheit passiert sind. Nun können Eltern ihre Kinder aber kaum ohne irgendeine Strafe oder unangenehme Konsequenz erziehen, oder?
Kinder brauchen unbedingt Konsequenzen! Echte Wunden aber entstehen, wenn ein Kind durch Lektionen und Konsequenzen das Gefühl hat, unwürdig und nicht wertvoll zu sein, dass es ein Außenseiter ist und in seinem eigenen Zuhause nicht akzeptiert wird, wenn seinen Eltern und Betreuern andere Dinge immer wichtiger sind als es selbst, wenn es zu Hause an Vertrauen und an Sicherheit mangelt. Eltern werden natürlich nie perfekt sein. Das ist auch nicht das Ziel. Aber Erwachsene können Verantwortung übernehmen und Rechenschaft ablegen. Sie können Grenzen setzen und Konsequenzen mit Sorgfalt und Liebe durchsetzen, um einem Kind zu versichern, dass es immer noch ihre Liebe verdient, egal, was es gerade getan hat. Dass das Kind die Grenze und Konsequenz immer noch nicht toll findet und sauer ist, das darf natürlich sein – und gehört akzeptiert.
Sie identifizieren Wunden in fünf Bereichen: Würde, Zugehörigkeit, Aufmerksamkeit, Vertrauen und Sicherheit. Welche sind die einflussreichsten?
Die Wunde der Wertschätzung und die der Sicherheit spielen meiner Erfahrung nach im Erwachsenenalter die größte Rolle. In dem Buch erzähle ich ein wenig von meiner persönlichen Geschichte, denn auch ich hatte mit diesen beiden am meisten zu kämpfen. Mein Wert etwa war daran gebunden, dass ich ein „leichtes“Kind war. Benahm ich mich wie erwünscht, bekam ich ohne Probleme Liebe, Verbundenheit, Unterstützung, Hilfe und so weiter. Wenn ich schwieriger war, wurden mir diese Dinge vorenthalten, meistens von meinem Vater, und ich wurde durch Schweigen bestraft. Um die Liebe und Verbindung aufrechtzuerhalten, musste ich mich also stets gut benehmen, so tun, als wäre ich von nichts betroffen. Die Folge war, dass ich in meinem Leben und meinen Beziehungen keine für mich wichtigen Grenzen ziehen konnte, verletzendes Verhalten anderer toleriert und meine echten Gefühle unterdrückt habe. Das tat niemandem gut, weder mir selbst noch anderen.
Anzuerkennen, dass die Vergangenheit noch heute Macht über einen ausübt, ist schwer.
Und doch ist es der erste Schritt zu einer Verbesserung. Die beginnt nämlich damit, dass man die eigenen Herkunftswunden überhaupt erstmal identifiziert. Und diese dann betrauert. Etwa, dass man hauptsächlich dann Aufmerksamkeit und Liebe bekommen hatte, wenn man etwas geleistet hat, zum Beispiel gut in der Schule war. Diese Menschen geben als Erwachsene weiterhin ein perfektes Bild ab. Sie machen sich nützlich, erbringen Leistung, weil sie glauben, nur so Liebe, Aufmerksamkeit, Bindung und Intimität zu verdienen. Manche knüpfen die eigene Liebe zum Partner an diese Bedingungen und fragen sich, warum es so viel Streit in der Beziehung gibt. Sich wieder in die Rolle des Kindes zu versetzen, das man war, ist schmerzhaft. Die Lage erscheint manchmal ausweglos. Ich sage immer: Wenn du feststeckst, trauere mehr. Ein Teil der Heilung unserer Wunden erfordert, dass wir spüren, dass wir bei unseren Gefühlen sind. Das ist manchmal überwältigend, ja sogar unangenehm. Doch erst danach können wir wirklich etwas an unserem Verhalten ändern.
Das dauert sicher lang, schließlich stecken manche Verhaltensweisen seit Jahrzehnten in uns drin, obwohl wir vom Verstand her wissen, wie es besser gehen könnte. Ist eine Veränderung überhaupt allein zu schaffen?
Unterstützung und Gemeinschaft sind immer hilfreich. Ich glaube, dass wir ein gewisses Maß allein schaffen können. Wer aber ein Trauma aus seiner Vergangenheit mit sich herumträgt, etwa durch Gewalterfahrungen, sollte psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Selbst bei der Lektüre meines Buches kann viel auftauchen, was man bisher gut verdrängt hatte. Da muss man in sich hineinhorchen, ob man zunächst allein in das Thema eintaucht, es mit guten Freunden bespricht oder sich anderweitig Unterstützung holt.
Vielen Menschen ist ihre Herkunftsfamilie wichtig, nicht wenige idealisieren die Vergangenheit trotz Traumata und Verletzungen. Was raten Sie ihnen?
Dass wir Mitgefühl, Gnade und Respekt für unsere Familie empfinden und gleichzeitig unseren Schmerz anerkennen können. Man muss nicht das eine gegen das andere tauschen, wie viele meinen. Die Idealisierung der Familie ist oft ein Schutzmechanismus, auch, um sich nicht mit den eigenen Problemen auseinandersetzen zu müssen. Viele verstehen, dass die Eltern ihr Bestes getan haben, dass sie ihren eigenen Schmerz hatten. Viele entstammen noch einer Generation, in der es vor allem wichtig war, das Kind satt und körperlich gesund zu halten. Oft will man da nicht undankbar sein und Gefahr laufen, das Opfer, das ein Elternteil gebracht hat, nicht anzuerkennen. Aber die Realität ist, dass wir das tun können, ohne dabei unseren eigenen Schmerz negieren zu müssen.
Es braucht viel Selbstbewusstsein, um Muster zu durchbrechen. Was meinen Sie, wie kann man am besten daran arbeiten?
So, wie man Mitgefühl und Gnade für die eigene Familie walten lassen sollte, so gilt das auch für einen selbst. Überstürzt hier nichts. Und vor allem: Denkt daran, dass Wachstum nicht linear verläuft! Nur weil man mal wieder in ein altes Muster zurückgefallen oder nicht sofort die gewünschte Veränderung eingetreten ist, heißt das noch lange nicht, dass man nicht heilt und an seinen Aufgaben wächst. Leider betrachten viele Menschen Heilung als ein Ergebnis und nicht als einen Prozess. Dass es nicht zählt, wenn man etwas wieder falsch macht. Doch das könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Inwiefern unterscheiden sich Männer und Frauen, was ihre Prägungen und Wunden angeht?
Wir wissen, dass viele kleine Jungen und Mädchen verschieden erzogen werden. Es kann unterschiedliche Erwartungen an sie geben oder unterschiedliche Dinge, die von den Eltern hervorgehoben werden. So macht ein kleines Mädchen seinen Wert vielleicht von seinem Aussehen, seinem Gewicht, seiner Attraktivität oder davon abhängig, wie gut es anderen gefällt und sie glücklich macht. Ein Teil dieser Konditionierung kann sowohl im Familiensystem als auch in der Gesellschaft im Allgemeinen glücklich machen. Von kleinen Jungen wird vielleicht erwartet, dass sie stark sind, dass sie als Emotion höchstens Wut zeigen, oder dass ihr Erfolg von ihrer Leistung oder ihrer Fähigkeit abhängt, von Gleichaltrigen respektiert zu werden. Dies sind nur einige Beispiele, die sich im Erwachsenenalter bemerkbar machen und Probleme auslösen können.
Auf der einen Seite haben Menschen das Bedürfnis nach Bindung, auf der anderen sind aber auch Authentizität und Individualität wichtig. Wie passen diese Gegensätze zusammen?
Beide sind unglaublich wichtig, auch schon für Kinder. Leider verlangen viele Familiensysteme von einem Kind, das eine gegen das andere einzutauschen. Um Nähe, Verbundenheit, Liebe, Wertschätzung und Präsenz von mir, dem Erwachsenen, zu bekommen, muss das Kind so sein, wie ich es mir wünsche – oft im Gegensatz zu dem, was das Kind tatsächlich ist. Kinder werden sich, wenn es erforderlich ist, immer für Bindung entscheiden, weil es das ist, was sie buchstäblich zum Überleben brauchen. Doch selbst Erwachsene tauschen ihr wahres Wesen, ihre Authentizität, gegen eine Beziehung oder eine feste Bindung ein. Sie verstellen und verstecken sich, geben sich manchmal sogar auf, um die Illusion von Liebe, Verbundenheit, Lob und so weiter zu erhalten. Das eigentliche Ziel aber sollte es sein, in Beziehungen zu leben, in denen man man selbst sein kann, in denen die eigene Authentizität Raum hat und in denen sie nicht die eigenen Bindungen bedroht.