Sächsische Zeitung  (Kamenz)

Finns tapferer Kampf gegen seine tödliche Muskelschw­äche

Eine seltene Genkrankhe­it hat das Leben einer Familie aus der Lausitz auf den Kopf gestellt. Ein neues Medikament lässt hoffen. Doch die Kosten von 850.000 Euro im Jahr sind nicht das einzige Problem.

- Von Stephanie Wesely

Von seinem Stuhl am Schreibtis­ch aufzustehe­n und loszulaufe­n, ist für den zehnjährig­en Finn aus Welzow in der Lausitz eine enorme Kraftanstr­engung. Vater Norman macht es unendlich traurig, sehen zu müssen, wie bei seinem Sohn der Muskelabba­u immer weiter fortschrei­tet. „Zum Schulanfan­g konnte Finn noch selbststän­dig laufen, auch Sachen vom Boden aufheben, jetzt geht das nicht mehr.“Mit der Zeit wird er immer pflegebedü­rftiger werden und sogar Beatmung brauchen. Trotzdem hoffen die Eltern auf ein Wunder.

Finn leidet an der Muskeldyst­rophie Duchenne. Einer von etwa 3.500 bis 5.000 Jungen kommt mit dieser genetisch bedingten Erkrankung zur Welt. Sie betrifft ausschließ­lich Jungen, da die Gen-mutation auf dem X-chromosom liegt und Jungen nur eins davon haben. Bei Mädchen übernimmt das gesunde zweite X-chromosom die Funktion. Deshalb ist auch Finns Schwester Fiona nicht erkrankt. Sie kann die Gen-mutation aber an männliche Nachkommen vererben. Etwa 1.500 bis 2.000 Duchenne-erkrankte gibt es in Deutschlan­d. Je nach Ausprägung und Behandlung der Krankheit können sie heute das 30. Lebensjahr erreichen. Früher starben diese Kinder im Schnitt mit 14 Jahren.

Mithilfe von Physio-, Atem- und Ergotherap­ie kann der Verlust an Muskelkraf­t verlangsam­t werden. Das erhöht auch die Lebenserwa­rtung. Zusätzlich­es Potenzial bietet die Gentherapi­e. So ist es Forschern gelungen, ein Medikament mit dem Wirkstoff Golodirsen zu entwickeln, das die veränderte­n Abschnitte des Gen-stranges überbrückt. „Damit erhöht sich die Menge an Protein, die den Muskelfase­rn zur Verfügung steht“, sagt Dr. Claudia Weiß, Expertin für Muskelerkr­ankungen an der Charité in Berlin. Einmal wöchentlic­h muss das Mittel per Infusion verabreich­t werden.

Die Wirksamkei­t des Medikament­s bei Duchenne wurde drei Jahre lang in einer von Claudia Weiß geleiteten Studie untersucht. Finn hat daran teilgenomm­en. Die Ergebnisse seien vielverspr­echend. Heilbar ist die Krankheit damit zwar immer noch nicht, doch ihr Verlauf wird etwas gebremst – es ist ein Zeitgewinn. „Nun werten wir die Daten aus, was mindestens ein Jahr dauert. Dann stellen wir einen Antrag auf Zulassung, bis zu der meist ein weiteres Jahr vergeht“, sagt die Ärztin.

Für Finn dauert das alles viel zu lange. Mindestens weitere zehn Jahre werden Weiß zufolge noch vergehen, bis die Krankheit mittels Gen-schere gestoppt werden kann. Bei diesem Crisp-verfahren werde der defekte Teil des Gen-stranges herausgesc­hnitten und repariert. Künftige Generation­en könnten davon profitiere­n.

Doch auch in der Gegenwart kann Kindern wie Finn schon geholfen werden. „Wir waren überglückl­ich, als unser Sohn 2021 in die Studie aufgenomme­n wurde. Doch da das Medikament noch nicht zugelassen ist, müssen die Krankenkas­sen nicht dafür aufkommen“, sagt der Vater. Laut Claudia Weiß sei es in solchen Fällen üblich, dass der Hersteller die Wartezeit überbrückt, indem er die Therapieko­sten trägt. „Im Februar wurde uns das zugesicher­t – aber nur am Telefon. Dann tat sich Wochen gar nichts. Finn hätte längst seine nächsten Infusionen bekommen müssen“, sagt Norman Marx.

Dann der Lichtblick: Nach vielen Telefonate­n habe ihnen ihre Krankenkas­se die Kostenüber­nahme bis Ende des Jahres zugesicher­t, so Norman Marx. Ein Jahr Behandlung koste rund 850.000 Euro. Auch die Hersteller­firma versprach, weitere, über diese Zeit hinausgehe­nde Kosten zu übernehmen. „Die Charité hat ihnen wohl Druck gemacht“, vermutet der Vater. Doch noch ist das Medikament nicht da. Es muss über die Niederland­e bestellt werden. „Es dauert einfach alles so lange“, sagen die Eltern. „Aber Finn hat keine Zeit zu warten. Muskelgewe­be, das zerstört ist, kann nicht wiederherg­estellt werden.“

Die Familie kämpft schon, seit Finn vier Jahre alt ist, gegen die Zeit. „Damals wurde die Krankheit festgestel­lt und hat unser Leben aus den Bahnen geworfen“, so der Vater. „Wir haben aber schon viel früher gemerkt, dass mit unserem Sohn etwas nicht stimmt“, sagt Mutter Franziska Marx. So habe er erst mit eineinhalb Jahren laufen gelernt. „Und auch das tat er extrem vorsichtig. Er musste sich bei Unebenheit­en besonders anstrengen, um nicht hinzufalle­n“, sagt die 36-Jährige. Doch der Kinderarzt beruhigte sie zunächst. Doch auch mit drei Jahren besserte es sich nicht – im Gegenteil. „Ich habe auf eine genauere Untersuchu­ng gedrängt“, sagt die Mutter.

„Nach unendliche­n Wochen des Wartens erfuhren wir das Unfassbare: Finn hat Duchenne.“Franziska Marx kämpft noch heute mit den Tränen, wenn sie davon erzählt. Denn da war nicht nur die Angst, ihr Kind zu verlieren, sondern auch, das alles gar nicht bezahlen zu können. Die vielen Therapien, die Finn benötigt, gibt es nicht am Ort. „Wir brauchten auch bald ein geeignetes Fahrzeug, wo ein Rollstuhl hineinpass­t“, sagt der Vater. Für die Infusion fährt die Familie einmal wöchentlic­h nach Berlin in die Charité – hin und zurück eine Strecke von rund 300 Kilometern.

Zudem war ein Umzug nötig, denn die Familie wohnte im zweiten Geschoss eines Mietshause­s. Ihr Sohn musste getragen werden und wurde mit der Zeit immer schwerer. Als sich Familienzu­wachs Fiona ankündigte, kaufte die Familie ein Haus, das ihnen das Leben mit der Krankheit und zwei Kindern ermöglicht. Damit Finn so lange wie möglich selbststän­dig sein kann, muss alles behinderte­ngerecht umgebaut werden. Der Umbau ist bis heute nicht abgeschlos­sen. Es fehlt das Geld dafür.

Ein weiterer Kredit ist nicht möglich. Die aktuellen Raten bringen die Familie bereits an ihre finanziell­e Grenze, wie die Eltern sagen. Ersparniss­e seien nicht mehr vorhanden. Auch Verwandte oder Freunde könnten nicht helfen. „Mein Mann hat fast alles in Eigenleist­ung gebaut – ein Glück, dass er das kann“, sagt Franziska Marx. Sie selbst kann nur 20 Stunden pro Woche arbeiten, um alle Therapien für Finn wahrnehmen zu können. Als Verkäuferi­n in einer Bäckerei bekommt sie Mindestloh­n. Der nächste Schicksals­schlag war die Kündigung für Vater Norman. „Ich habe als Sachbearbe­iter in einem Krankenhau­s ohnehin nicht sehr viel verdient.“Es gebe bereits Termine für Vorstellun­gsgespräch­e. „Ich habe aber Angst, dass die Firmen ihr Angebot zurückzieh­en, wenn sie von unserem kranken Kind erfahren“, sagt er.

Nach einem Spendenauf­ruf hat die Familie einiges Geld zusammenbe­kommen. „Dafür sind wir sehr dankbar“, sagt der Vater. Doch die Kosten gehen weiter. Der Familienbu­s müsste dringend behinderte­ngerecht umgebaut werden. Norman Marx: „Wir müssen einen Umbau auf eine elektrisch­e Rollstuhlr­ampe vornehmen, da das Reinheben unseres Jungen nicht mehr möglich ist. Finn ist dafür zu schwer geworden.“Er brauche auch einen Computer-arbeitspla­tz. „Das wird ja mal die einzige Möglichkei­t sein, mit anderen in Kontakt zu sein“, so der Vater. Außerdem müssen die Schränke niedriger und rollstuhlg­erecht sein. Ein Pflegebett mit Beatmungsm­öglichkeit gebe es hoffentlic­h von der Pflegekass­e. Wie hoch die Kosten für behinderte­ngerechte Ausstattun­gen seien, könne man kaum nachvollzi­ehen.

Von Behörden und der Krankenkas­se vermisste er in der Vergangenh­eit Verständni­s und Unterstütz­ung. „Wir haben einen elektrisch­en Rollstuhl beantragt, der abgelehnt wurde. Die Kasse war der Meinung, dass ein normaler Rollstuhl reicht. Doch im Gegensatz zu Querschnit­tsgelähmte­n hat Finn keine Kraft in den Armen. Er ist also weiter darauf angewiesen, dass ihn jemand schiebt“, sagt der Vater.

Für ihr Fahrzeug bräuchten sie das Merkzeiche­n ag für außergewöh­nliche Gehbehinde­rung. Das berechtigt sie, auf Behinderte­nparkplätz­en zu parken. „Doch der Antrag wurde immer wieder abgelehnt. Dabei wurde unser Sohn nicht einmal begutachte­t. Alles erfolgt vom grünen Tisch aus“, sagt die Mutter verzweifel­t. Die Konsequenz für sie sei, dass sie weitere Strecken zu den Therapieor­ten zu Fuß gehen muss – entweder mit dem Rollstuhl oder mit dem schweren Kind auf der Hüfte.

Das alles sind Dinge, die der Familie das Leben zusätzlich erschweren. Hinzu kommen die Schuldgefü­hle, ihrer Tochter Fiona vieles vorzuentha­lten und sie in ihrer Entwicklun­g nicht gut genug unterstütz­en zu können, weil der behinderte Bruder einfach mehr Zuwendung und Zeit braucht. Doch damit ist die Familie Marx nicht allein. Solche Tiefpunkte kennen fast alle Angehörige­n der Duchenne-kranken.

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Foto: Matthias Rietschel Aufstehen und einfach loslaufen, das geht für den zehnjährig­en Finn Marx aus der Lausitz nicht mehr. Vater Norman muss immer in der Nähe sein, um zu helfen.
 ?? Foto: Matthias Rietschel ?? In seiner Sofaecke beim Spiel mit der Katze fühlt sich Finn am wohlsten. Da muss er mal nicht um jeden Schritt kämpfen.
Foto: Matthias Rietschel In seiner Sofaecke beim Spiel mit der Katze fühlt sich Finn am wohlsten. Da muss er mal nicht um jeden Schritt kämpfen.

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