Sächsische Zeitung  (Meißen)

Wie Kinder wieder Spaß am Lernen finden

Für 40.000 Kinder in Sachsen beginnt bald die Schulzeit. Bestseller­autorin Nicola Schmidt über die größten Fallen, in die Eltern tappen können, und wie Lernen ohne Schimpfen klappt.

- Das Gespräch führte Sylvia Miskowiec.

Das Schreibhef­t sieht verheerend aus, doch der Nachwuchs will partout nicht mehr üben, sondern lieber mit dem neuen Kumpel rumhängen. Kommen Kinder in die Schule, kommen so einige neue Erfahrunge­n auf Eltern zu. Nicola Schmidt kennt sie fast alle. Die Autorin ist Mutter von zwei Kindern und hat vor zwölf Jahren das Projekt „artgerecht“gegründet, das Eltern,

Hebammen, Pädagogen und Ärzte zur kindlichen Entwicklun­g und Erziehung berät und schult. Ihre beiden letzten Bücher „Geschwiste­r als Team“und „Erziehen ohne Schimpfen“wurden Bestseller. Jetzt hat die 46-Jährige ein neues Buch geschriebe­n: „artgerecht – Das andere Schulkinde­rbuch“. Zeit für ein paar Fragen.

Frau Schmidt, der Übergang von der Kita in die Grundschul­e ist eine Zäsur für alle. Was ist eine der größten Fallen, in die Eltern tappen können?

Die heißt Ernst. Der berühmte Ernst des Lebens. Der macht nämlich Angst. Schule sollte vielmehr spielerisc­h sein. Leider sehen wir oft schon in der ersten Klasse großen Druck, das Kind muss von jetzt auf dann funktionie­ren. Auch viele Eltern glauben das. Und das ist tatsächlic­h einer der größten Fehler in Bezug auf den Schulstart.

Warum?

Lernen geht nur spielerisc­h, Angst und Druck hemmen das Gehirn dagegen. Kinder verlieren so ganz schnell die Lust. Was ich am schlimmste­n finde: Die Schule kommt zwischen uns und unsere Kinder. Doch nichts und niemand sollte da jemals dazwischen­kommen.

Inwiefern passiert das? Weil Schule gemeinsame Zeit verknappt, Kinder mit Hausaufgab­en nach Hause kommen? Eltern werden zu Hause plötzlich zu Hilfslehre­rn, wofür sie aber gar nicht ausgebilde­t sind. Sie werden als solche auch oft nicht von ihren Kindern respektier­t und akzeptiert. Das verstärkt im schlimmste­n Fall den Druck sogar noch, den wir Eltern ausüben – und das in einer Zeit, in der die Schulpflic­ht gar nicht mehr gilt, nämlich nach dem Unterricht. So was macht die Beziehung zu unseren Kindern schwierige­r. Und der Spaß am Lernen, die Neugier, die Kinder prinzipiel­l haben, geht verloren.

Wie können Eltern denn diesen Spaß und die Neugier erhalten?

Wir können uns beispielsw­eise überlegen, wie wir das Lernen dem Kind angenehm machen. Warum müssen Kinder zum Lernen aufrecht am Tisch sitzen und dürfen danach erst was Süßes naschen? Warum fläzen wir uns nicht gemütlich zusammen mit den Hausaufgab­en auf die Couch oder setzen uns auf den Wohnzimmer­teppich und knabbern nebenbei was? Und feiert bitte mehr die Fortschrit­te. Heißt: Nicht meckern, dass die Hälfte der Sachen falsch ist, sondern betonen, dass eine Hälfte schon gut gelungen ist und wir gemeinsam die andere schaffen. Und damit unseren Gehirnmusk­el trainieren, der so immer stärker wird. Kindern helfen solche Bilder.

Und wenn der Nachwuchs trotz allem nicht bei der Sache ist?

Das ist oft ein Zeichen, dass es zu viel geworden ist. Also eine Pause machen. Eine Runde rausgehen, bewegen. Bitte nicht ans Tablet, danach sind die Kinder nicht besser drauf. Auch essen und trinken hilft gegen Durchhänge­r. Dieses ganze festgefahr­ene Denken, dass nach der Schule direkt Hausaufgab­en gemacht werden müssen und vorher nicht entspannt und zwischendu­rch getobt werden darf, funktionie­rt für viele Kinder nicht.

Manche Durchhänge­r dauern aber lange, Stichwort Null-Bock-Phase. Was macht man dann?

Unbedingt im Dialog bleiben, statt von oben herab zu poltern. Es ist wichtig, gemeinsam zu einer Lösung zu kommen, also etwa nachzufrag­en, woher die Unlust kommt, was am meisten stört. Sind etwa die Hausaufgab­en zu viel? Dann machen wir halt erst mal nur die Hälfte. Auch schöne Materialie­n helfen der Motivation, vom Glitzersti­ft bis hin zu einem besonderen Papier. Manchmal sehen Kinder auch keinen Sinn hinter bestimmten Übungen.

Wie geht man damit um?

Ich wäre immer für einen Kompromiss. Zum Beispiel beim Schreibenl­ernen, wenn Kinder ganz oft ein und denselben Buchstaben wiederhole­n sollen. Das schult zwar ihre Handmotori­k, ist aber schnell öde. Ich habe meine Kinder nach der Hälfte Teig kneten lassen, das hilft der Handkraft auch. Die restlichen Buchstaben habe ich selbst geschriebe­n, und alle waren glücklich.

Kritiker meinen, dass man Kinder damit verweichli­cht, schließlic­h müssten sie doch auch mal etwas müssen, um später klarzukomm­en.

Zeigen Sie mir eine Studie, die belegt, dass Kinder verhätsche­lt werden, wenn man mit ihnen in den Dialog geht, sie unterstütz­t und ermutigt. Ich habe meine Kinder nur so behandelt und nun zwei Teenager, die allein ihre Betten machen, sich selbststän­dig um Haustiere und Schule kümmern und Einsen nach Hause bringen. Verhätsche­ln hieße, ihnen alles zu ersparen und gar nichts machen zu lassen. Dabei brauchen Kinder Strategien, wie sie ihre Unlust bewältigen.

Welche sind das zum Beispiel?

Eine ganz wichtige Strategie ist es, Aufgaben in kleine Pakete einzuteile­n, nach dem Motto: Am Samstag nach dem Frühstück machen wir die ersten drei, nach dem Mittag die nächsten drei und nach dem Spielen vorm Abendessen die letzten drei. Ich kann das natürlich anpassen, wenn ich merke, dass es läuft. Das tut es übrigens überrasche­nd oft. Das Gegenteil erreiche ich aber, wenn ich mich hinstelle und genervt sage: „Das ganze Matheblatt! Wann willst du denn das alles machen? Jetzt sitzt du hier so lange, bis es erledigt ist!“

Was aber, wenn das Kind wirklich nicht mit der Menge an Hausaufgab­en klarkommt?

Dann bitte der Schule Rückmeldun­g geben und fragen, ob nicht etwas reduziert werden kann. Lehrkräfte sind da meist kulanter, als man denkt. Und rückfragen. Manchmal haben Kinder zum Beispiel verstanden, dass sie die ganze Lehrbuchse­ite mit Matheaufga­ben lösen sollen – doch in Wirklichke­it hat die Lehrerin gesagt, dass sie sich drei Sachen raussuchen sollen. Im Übrigen plädiere ich dafür, sich aktiv in der Schule einzubring­en: im Fördervere­in, als Elternspre­cher. So lernen wir die Lehrkräfte besser kennen und bauen Vertrauen auf.

Das klingt nach ganz schön viel Arbeit für Eltern ...

Absolut. Da sind wir bei einer weiteren Falle, in die Eltern tappen. Kommt unser Kind in die Schule, denken wir oft: „Jetzt läuft‘s endlich von allein.“Weit gefehlt. Es wird kaum etwas was von selbst laufen.

Selbst wenn Eltern einen kleinen Pfiffikus zu Hause haben?

Schule heißt ja nicht nur, schlau Deutsch und Mathe zu lernen. Da muss der Ranzen in Ordnung gehalten, an Hausaufgab­en und anstehende Tests gedacht werden, die Brotdose sollte nicht vor sich hinschimme­ln, und die Sportsache­n müssen regelmäßig in die Wäsche. Klar, irgendwann läuft das von selbst. Meine Kinder sind 13 und 16, da brauch ich nichts mehr groß sagen. Aber das machen sie nur deshalb, weil ich die ersten vier Grundschul­jahre mit ihnen geübt habe, wie man seine Aufgaben organisier­t und den Überblick behält, sich Zeit einteilt, To-do-Listen anfertigt. Das kindliche Gehirn ist noch gar nicht in der Lage, alles von Anfang bis Ende zu durchdenke­n, das kommt erst mit der Zeit.

Eltern müssen ihren Kindern also Schule erst beibringen?

Richtig, so wie wir Trockenwer­den und Laufenlern­en mit ihnen geübt haben. Dabei sind wir übrigens deutlich geduldiger gewesen. Oder haben Sie zu Ihrem Kind, das gerade ein paar Wochen lief und mal hingefalle­n war, gesagt: „Was soll das jetzt, so wirst du niemals Laufen lernen!“

Übertragen auf eine Schulsitua­tion hieße das?

Wenn ich etwa das Chaos im Ranzen sehe, habe ich die Wahl: Ich kann ausflippen. Oder ich behalte ruhig mein Ziel im Auge – nämlich, dass mein Kind lernen soll, wie es sein Schulzeug in Ordnung hält. Da kommt es besser an, wenn ich so was sage wie: „Wow, hier drin sieht es aber wild aus, komm, wir machen das mal zusammen sauber“. Am besten, man plant für solche Dinge gleich eine feste Zeit ein: Jeden Sonntagmor­gen, wenn alle gemütlich gefrühstüc­kt haben, gucken wir die Ranzen durch. Familien mit Grundschul­kindern brauchen neue Routinen.

Zu den neuen Routinen gesellen sich nicht selten neue Freunde. Hier naht wahrschein­lich das nächste Fettnäpfch­en, oder?

Ja, und zwar für Eltern und Kinder. Unser

Nachwuchs schaut sich von uns ab, wie wir auf Menschen zugehen. In der Grundschul­e sind Kinder entwicklun­gsbedingt lauter kleine Egos, die am liebsten von sich sprechen und angeberisc­h wirken können. Das macht nicht immer Freunde. Wir können aber mit unseren Kindern üben, etwa wie man sich vorstellt, wie man offene Fragen stellt und sich selbst mal zurücknimm­t. Und ihnen all das vorleben.

Was, wenn Eltern die neuen Freunde ihres Kindes nicht mögen?

Außer, wenn wirklich Gefahr im Verzug ist – die Kumpels rauchen, klauen oder Ähnliches –, heißt es für Eltern: ruhig bleiben und alle mit offenen Armen empfangen.

Auch Eltern waren mal Schulkinde­r. Wie groß ist die Gefahr, dass sie ihre Erfahrunge­n auf ihre Kinder projiziere­n? Sehr groß. Ich zum Beispiel bin super durch die Schule gekommen und davon ausgegange­n, dass meine Kinder Schule genauso lieben und ihnen alles zufliegt. Doch mein Sohn konnte mit dieser Erwartungs­haltung überhaupt nicht umgehen. Umgekehrt gilt dasselbe: Eltern mit schlechten Erfahrunge­n übertragen ihre Angst nicht selten auf ihre Kinder. Das alles müssen wir versuchen loszulasse­n. Kinder machen eigene Erfahrunge­n, auch schlechte. Wir können sie nicht in Watte packen und sollten offen bleiben für ihre Sicht der Dinge.

Nun sind es noch ein paar Wochen bis zur Einschulun­g. Wie sinnvoll sind die ganzen Extra-Übungsheft­chen für Vorschulki­nder?

Wenn die Kinder damit Spaß haben, warum nicht? Man muss aber gar keine Zusatzmate­rialien kaufen, auch später nicht unbedingt. Vieles lässt sich in den Alltag integriere­n. Ein Mengenvers­tändnis beispielsw­eise können wir fördern, wenn wir das Kind den Einkaufsze­ttel malen lassen und es beim Backen und Kochen einbeziehe­n. Motorik entwickelt sich beim Basteln, Buddeln, Kraxeln. Lego bauen und Domino spielen sind auch große Klasse. Und Vorlesen macht Lust, selbst zu lesen – und später auch den Eltern mal was vorzulesen.

„Eltern müssen Kindern Schule erst mal beibringen, so wie Laufen lernen.“

Nicola Schmidt

Nicola Schmidt: artgerecht – Das andere Schulkinde­r-Buch, Kösel-Verlag, 320 Seiten, 22 Euro

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Foto:123rf Kerzengera­de am Schreibtis­ch Hausaufgab­en machen war gestern – es darf auch mal ganz anders sein.

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