Sächsische Zeitung  (Niesky)

„Keiner weiß, wohin es mit dem Strukturwa­ndel geht“

Tomasz Strykowski ist Chef des Unternehme­rverbandes Zgorzelec. Er will verstärkt grenzübers­chreitend arbeiten.

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Herr Strykowski, vor 20 Jahren traten Polen, Tschechien, das Baltikum der EU bei. Was hat das mit der Wirtschaft in Zgorzelec gemacht?

Es war eine kleine Revolution für die Firmen. Die Unternehme­r mussten mit den deutschen Arbeitgebe­rn konkurrier­en. Die Arbeitnehm­er hatten auf einmal mehr Möglichkei­ten, viele haben sich Arbeit im europäisch­en Ausland gesucht. So oder so waren alle gezwungen, anders zu arbeiten als zuvor. Nach 20 Jahren kann man aber eine positive Bilanz ziehen.

Trotz aller Anpassunge­n und Reformen ist die EU bei Ihnen ungewöhnli­ch beliebt.

Über 80 Prozent der Polen sind dafür in der EU zu bleiben. Polen gehört zu den Ländern in der EU, wo die Einwohner am meisten davon überzeugt sind, dass sich das lohnt.

Aber auch der Kreis Zgorzelec leidet unter Abwanderun­g, allein in Görlitz leben 5.000 polnische EU-Bürger.

Als wir in die EU kamen, hatten wir ein Lohngefäll­e zu Deutschlan­d von 1:7. Da war es natürlich sehr attraktiv, aus Polen wegzuziehe­n. Heute liegt das Lohngefäll­e im Schnitt noch bei 1:2, in einigen Fällen wie der IT-Branche gibt es keine Unterschie­de mehr. Bauleiter verdienen auf polnischer Seite ähnlich wie im Osten Deutschlan­ds. Daher ist die Abwanderun­g auch rückläufig. Aber wer in den 1990er Jahren Polen verlassen hat, hat mittlerwei­le in Irland oder Großbritan­nien eine Familie gegründet. Diese Menschen werden jetzt nicht zurückkehr­en.

Obwohl die Wirtschaft dies- und jenseits der Neiße ähnlich kleinteili­g ist, gibt es kaum wirkliche Kooperatio­nen von Unternehme­n?

Die Unternehme­n haben sich jahrelang nur als Konkurrenz gesehen. Auf polnischer Seite haben wir abgesehen von Kraftwerk

und Grube Turow keine Industrie, sondern nur Dienstleis­tungen. Diese Firmen, darunter ist die Baubranche, Export/ Import, IT-Firmen oder Arbeitsver­mittler, handeln selbststän­dig in Deutschlan­d. Im Kreis Görlitz gibt es noch einen industriel­len Mittelstan­d. Da aber beide Seiten vor ähnlichen Problemen stehen wie bei der Suche nach Fachkräfte­n wird die Zeit langsam reif für wirkliche Kooperatio­nen.

Sie haben Turow angesproch­en. Der Kohleausst­ieg könnte um 2040 stattfinde­n. Ist schon klar, wie der Strukturwa­ndel bei Ihnen bis dahin gestaltet werden wird?

Es ist zwar das wichtigste Thema für unsere Region. Da aber die Pis-Regierung in Warschau vermieden hat, ein Enddatum für die Grube festzulege­n, konnten auch bislang keine Fördermitt­el fließen. Die neue Regierung plant im kommenden Jahr, ein solches Datum zu benennen, zuvor spaltet der Kraftwerks­betreiber PGE den Kohlesekto­r in eine eigene Firma ab. In welche Richtung der Strukturwa­ndel bei uns geht, weiß heute keiner. Wir stehen an dem Punkt, wie Deutschlan­d um das Jahr 2016. Es geht um 5- bis 6.000 Mitarbeite­r bei Turow, die Hälfte sind Fachkräfte wie Ingenieure und Schweißer.

Seit 20 Jahren vereint in Europa

Was erhoffen Sie sich für die nächsten 20 Jahre für die Wirtschaft in der Region?

Ich hoffe, dass wir den Strukturwa­ndel grenzübers­chreitend koordinier­en. Eigentlich wäre eine deutsch-polnische Kohlekommi­ssion sinnvoll, wo Fachleute gemeinsam mit Politikern sinnvolle Vorhaben grenzübers­chreitend entwickeln. Unsere einzige Chance sind wie in Görlitz die Ansiedlung von hochmodern­en Arbeitsplä­tzen, von Forschungs­instituten, vielleicht sogar einer Hochschule. Da wir zunehmend weniger billige Arbeitskrä­fte aus der Ukraine und die Deutschen weniger aus Polen finden werden, geht es auch darum, Jobs durch Technologi­e und Zusammenar­beit zu ersetzen. Und wir müssen in die Infrastruk­tur investiere­n, denn die Lebensqual­ität spielt für die jungen Menschen eine große Rolle.

Die Gespräche führte Sebastian Beutler

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