Sächsische Zeitung (Pirna Sebnitz)
Im Fantasieland der Germaniten
„Demokratie, das ist die Betreuung der Dummen“, sagt der Mann mit dem Pferdeschwanz.
Eine in Sachsen bislang weitgehend unbekannte „Reichsbürger“-Gruppe plant einen Parallelstaat nach selbst definierten ethnischen Kriterien. Im Erzgebirge hat sie bereits ein ehemaliges Hotel gekauft. Nun versucht sie auch, neue Mitglieder zu rekrutieren. Zu Besuch auf einem Geheimtreffen.
Es ist ein kalter Wintertag nördlich von Dresden. In einem Dorf an der Elbe schlängelt sich die Straße vorbei an gepflegten Wohnhäusern. Etwas abseits, auf einem Landwirtschaftsweg, hält ein weißes Auto. Leute steigen aus. Sie wollen das letzte Stück lieber laufen, unauffällig bleiben. Andere halten direkt auf dem Gelände eines Vierseitenhofes. Im Torbogen steht die Jahreszahl 1817, am Briefkasten ein Aufkleber der Partei „Die Basis“, in der sich viele Querdenker tummeln.
Die Menschen, die sich hier versammeln, folgen einer Einladung einer Gruppierung, die sich „Indigenes Volk Germaniten“nennt. Die Veranstaltung ist konspirativ, erst wenige Stunden vor Beginn wurde der Ort des Treffens bekannt gegeben und als Handynachricht verschickt – an Interessenten, die sich per E-Mail angemeldet hatten. Es ist nicht das erste Treffen dieser Art in Sachsen. Wenige Wochen zuvor hat die Gruppierung bereits in Dresden mobilisiert, auch damals lief die Kommunikation über verborgene Chatgruppen. Die Organisatoren scheuen die Öffentlichkeit, sie sind vorsichtig.
Im Versammlungsraum des Vierseitenhofs prasselt ein Feuer im Ofen, es riecht nach Kaffee. Nach und nach treffen die Teilnehmer der geheimen Versammlung ein. Um die 20 Frauen und Männer werden es am Ende sein, die meisten sind zwischen 50 und 60 Jahre alt. Man wechselt freundliche Worte, einige haben Kuchen mitgebracht. Das Treffen erinnert an eine Familienfeier. Worum es an dem Abend tatsächlich geht: Eine extremistische Organisation, die mitten in der Bundesrepublik Deutschland einen germanischen Parallelstaat nach selbst definierten ethnischen Kriterien aufbauen will, sucht neue Mitglieder. Ein Reporter der Chemnitzer Freien Presse ist beim Treffen dabei – verdeckt.
Die Vereinigung „Indigenes Volk Germaniten“stammt aus Baden-Württemberg. Um das Jahr 2010 soll die Gruppierung nach Angaben von Verfassungsschützern entstanden sein. Als Gründerin gilt Ulrike Maria K. aus Schorndorf, einer Kleinstadt eine halbe Autostunde östlich von Stuttgart. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beschreibt den Personenzusammenschluss als eine bundesweit aktive „Reichsbürger“-Gruppierung, die bereits seit 2011 mit typischen Schreiben und Eingaben an Behörden wie auch an internationale Organisationen auf sich aufmerksam macht.
„Anhänger der Gruppierung erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht als souveränen Staat an und lehnen daher bundesdeutsche Ausweisdokumente als rechtswidrig ab“, erläutert der Bundesverfassungsschutz in einer Publikation über sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter aus dem Jahr 2023. Weiter heißt es dort über die Germaniten: „Die Ausübung der Staatsgewalt sehen sie als Verstoß gegen geltendes Besatzungsrecht und sehen sich folglich in der Pflicht, dagegen Widerstand zu leisten.“Die Anhänger der Organisation bezeichneten sich als „Nachkommen der germanischen Völker/Stämme“oder als „autochthon-indigen“.
Die Germaniten halten sich für ein indigenes Volk, also für Ureinwohner Deutschlands. Im Jahr 2017 befasste sich das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit dem vermeintlich existierenden „indigenen Volk Germaniten“und stellte klar: Eine Anerkennung der Gruppierung als indigenes Volk ist nach internationalem und nationalem Recht ausgeschlossen.
In dem Dorf bei Dresden bitten die Organisatoren des Abends in einen Hinterraum. Auch der Hausherr ist da. Sein Vierseitenhof diene als Zentrale des Ortsverbandes der Partei „Die Basis“, erklärt er. Er selbst sei zwar kein Germanit, seinen Hof stelle er aber gern zur Verfügung. Stühle sind im Kreis aufgestellt, ein Beamer wirft das Bild einer Pyramide an die Wand. Ganz unten ein Pfeil mit dem Hinweis: „Du“. Darüber Logos großer Konzerne aus der Weltwirtschaft. An der Spitze das Symbol des „Auges der Vorsehung“mit der Bezeichnung „die Elite“. Es folgt ein Bild des deutsch-jüdischen Bankiers Rothschild. Es sind antisemitische Codes einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung.
Zwei Männer treten vor die Versammelten. Der eine trägt eine Stoffhose und ein Hemd. Mit seiner Brille und den graumelierten Haaren wirkt er eher unauffällig. Der andere: größer, bunt gekleidet, kleine Ledertasche am Gürtel. Seine schulterlangen Haare hat er zum Pferdeschwanz gebunden. Sie seien Mitglieder der Mission Dresden II, erklären sie. „Missionen“– so nennen Germaniten ihre Stützpunkte. In ihren Schreiben heißt es, es gebe solche Stützpunkte in Bochum, Kiel und Potsdam, aber auch im Ausland, etwa in den Niederlanden, der Schweiz und in Norwegen.
Im Ursprungsland der Vereinigung, in Baden-Württemberg, sind dem Landesamt für Verfassungsschutz vier solche Standorte bekannt. In der Antwort auf eine Landtagsanfrage in Stuttgart hieß es im Januar, man könne nicht davon ausgehen, dass sich hinter diesen „Missionen“gefestigte Organisationsstrukturen verbergen. Womöglich handle es sich um Wohnsitze einzelner Angehöriger der Gruppierung.
Die Germaniten sagen, sie hätten bundesweit rund 1.700 „Volksangehörige“, 600 davon seien aktiv. In Baden-Württemberg ordnen die dortigen Verfassungsschützer der Bewegung aktuell etwa 100 bis 150 Personen zu. In Sachsen spricht das Landesamt für Verfassungsschutz in Dresden von 15 Personen.
In Sachsen ist die Gruppierung offenbar noch klein. Aber im Erzgebirge hat sie bereits Vorbereitungen für einen eigenen Versammlungsort geschaffen. In Seiffen kauften Anhänger im vergangenen Jahr das ehemalige Hotel „Ahornberg“. Es werde gerade zum Schulungszentrum umgebaut, heißt es. Gegenüber einem Reporter der Freien Presse erklärte dort im Herbst einer der Aktivisten, er könne doch kein „Reichsbürger“sein, da sein Vater einst von den Nazis verfolgt worden sei. Sein „Volk“werde zu Unrecht vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet. Und „gefährliche Extremisten“, wie von der Behörde behauptet, seien die Germaniten schon mal gar nicht, sondern friedlich.
Der Mann ist einer der Organisatoren des Treffens bei Dresden. An diesem Abend ist er nicht da. Der Vortrag im Vierseitenhof beginnt mit der Frage: Wer kann Volksmitglied bei den Germaniten werden? Die beiden Referenten werfen eine Europakarte an die Wand. Wer germanische Ahnen habe und diese Herkunft in sich fühle, könne sich schriftlich zur Volksgemeinschaft bekennen, erklären sie. 500 Euro betrage die Aufnahmegebühr, 120 Euro der Jahresbeitrag.
Der Widerstand gegen „das System“der Bundesrepublik ist Konsens unter den Teilnehmern, das wird schnell klar. Die parlamentarische Demokratie wird von dem Mann mit dem Pferdeschwanz mit dem Spruch abgetan: „Demokratie, das ist die Betreuung der Dummen.“
Eine Teilnehmerin erzählt, sie habe bereits mehrere Haftbefehle erhalten. Wofür genau, das lässt die zierliche Frau mit den langen schwarzen Haaren offen. Eine andere Anwesende fragt, ob sie nach ihrem Eintritt ins „Indigene Volk Germaniten“noch Unternehmenssteuern zahlen müsse. Beide Referenten winken sofort ab. Sie könne ihre Firma der Gemeinschaft überschreiben. „Das Unternehmen wird dann volkseigen“, sagt der Redner mit dem Pferdeschwanz. Steuern seien somit keine mehr an das „System BRD“zu entrichten. Allerdings müsse ein pauschaler Satz in Höhe von zehn Prozent des Gewinns an die Germaniten gezahlt werden. „Als Verwaltungsentschädigung.“
Von genau solchen Methoden berichtet auch der Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Das „Indigene Volk Germaniten“unternehme Versuche, in die Eigentumsverhältnisse seiner Anhänger einzugreifen, heißt es in einem Bericht auf der Internetseite der Behörde. Der Geheimdienst warnt: „Sollten entsprechende Überschreibungen tatsächlich rechtswirksam werden, riskieren die Anhänger erhebliche, eventuell sogar existenzielle, finanzielle Verluste.“
Die Unternehmerin, die nach den Steuern gefragt hatte, zögert. Dann holt sie kurz Luft, um eine Sache zu erklären, die ihr wichtig ist: In den zurückliegenden Jahren habe sie sich viel Geld geliehen, um ihre Immobilienfirma aufzubauen. Das habe sie nicht für den eigenen Erfolg getan. Vielmehr wolle sie sämtliche Objekte der Anastasia-Bewegung zur Verfügung stellen.
Die Anastasia-Bewegung ist eine um 1997 in Russland entstandene neureligiöse Sekte, die sich weltweit verbreitet und mittlerweile auch in Deutschland völkische Siedlungsprojekte verfolgt. Der Bundesverfassungsschutz führt die Gruppierung als rechtsextremen Verdachtsfall. Die Bewegung, so begründet die Behörde, basiere auf Romanen eines russischen Autors, der völkische, rassistische und antisemitische Ideologien verbreite. Für die Germaniten ist die Anastasia-Bewegung ein Vorbild, wie die Referenten während des Vortrages offen sagen. Man wolle ähnliche Strukturen aufbauen, also ebenfalls selbstverwaltende Kommunen im Hinterland.
In Deutschland wurde die AnastasiaSiedlung „Weda Elysia“in Wienrode im Harz bekannt. Sie bezeichnet sich selbst als „Gärtnerhof-Kleinsiedlungsprojekt“. Familien sollen sich dort auf je einem Hektar Land einen „autarken Lebens- und Schaffensraum“aufbauen. Weda Elysia, laut Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt gesichert rechtsextremistisch, will sich ins Dorf einbringen, Einfluss gewinnen.
Droht nun Ähnliches im Erzgebirge? In Seiffen haben sich die Germaniten bereits bei Nachbarn vorgestellt. Sie seien freundlich gewesen, hätten sich umgeschaut, erzählt der Besitzer einer Holzkunstwerkstatt. Auch andere Anwohner kamen mit den selbst ernannten Indigenen ins Gespräch. Die Germaniten halten Pferde auf dem Gelände. Das sorgt für Interesse bei den Dorfbewohnern. Man müsse sich eben arrangieren, finden die Nachbarn. Es ist dieses harmlose Bild, das die Germaniten vermitteln möchten.
Das ehemalige Hotel „Ahornberg“sei ein Kulturzentrum und diene der „friedlichen Völkerverständigung“, hatten die Germaniten in Seiffen der Freien Presse gesagt. In ihren Schulungen gehe es um das Erlernen „indigener Praktiken“wie germanischer Heilkunde, um „diese nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen“.
Im Vierseitenhof schildern die beiden Referenten Pläne eines Parallelstaates, unter anderem mit eigener Bank und eigener Krankenversicherung. Auch das erinnert, genauso wie die Eigentumsüberschreibungen, an die Reichsbürgerbewegung „Königreich Deutschland“, deren selbst ernannter „König“Peter Fitzek in Sachsen über Strohmänner bereits mehrere Objekte kaufen ließ. Der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, Harald Lamprecht, warnt eindringlich vor dieser Masche und nennt Fitzek einen gefährlichen Betrüger.
In Fitzeks „Reich“wird, ebenso wie im Fantasiestaat der Germaniten, die gesetzliche Schulpflicht ignoriert. Auf der Rekrutierungsveranstaltung bei Dresden heißt es, bei den Germaniten gebe es eine Bildungspflicht. Und zwar germanische Bildung. Auf einer Folie zeigt der Referent, was damit gemeint ist: Volkstänze, Folklore, germanische Medizin. Mittlerweile gebe es bei den Germaniten sogar einen ersten „Bildungszirkel“. Sieben Kinder würden per Videoschalte zu Hause beschult.
Es sollen mehr Kinder werden. Die Referenten geben Ratschläge, wie Familien die staatliche Schulpflicht umgehen könnten. Schulakten der Kinder, die bei Bildungseinrichtungen liegen, könnten zurückgefordert werden, behaupten sie. Dass es strafbar ist, die Schulpflicht zu umgehen, sagen sie nicht.
Erklärt wird auch, wie man auf amtliche Schreiben des Staates reagieren solle. Einige Teilnehmer wollen wissen, was man gegen den Rundfunkbeitrag tun könne. Solchen Schreiben begegne man mit massenweisen Eingaben und Widersprüchen, sagt der Mann mit dem Pferdeschwanz. Per Fax sollten sie, signiert von möglichst vielen Germaniten, an die Beamten geschickt werden.
Nach fünf Stunden endet das Treffen im Vierseitenhof. Der Mann mit dem Pferdeschwanz reicht ein Kärtchen herum: eine Identitätskarte, mit der Germaniten ihre Zugehörigkeit bekunden. Einige Gäste drehen sie interessiert hin und her. Kurz darauf setzen sich Autos in Bewegung. Die Teilnehmer verschwinden so, wie sie gekommen sind: unauffällig.