Sächsische Zeitung (Pirna Sebnitz)

„Das Land hat eine traumatisc­he Erfahrung gemacht“

Was lief schief während der Pandemie? Im Gespräch erklärt Ethikratsc­hefin Alena Buyx, was Aufarbeitu­ng jetzt leisten sollte.

- Das Gespräch führten Nora Ederer und Birgit Herden

Frau Buyx, vor einem Jahr hat die Bundesregi­erung die letzten CoronaSchu­tzmaßnahme­n auslaufen lassen. Im Mai 2023 hob die Weltgesund­heitsorgan­isation dann den weltweiten Corona-Gesundheit­snotstand auf. Warum ist es wichtig, sich jetzt noch mit der Pandemie zu beschäftig­en?

Wir haben das schon ein bisschen vergessen, aber es war nicht nur eine ungeheure Krise im Gesundheit­ssystem, sondern wohl die tiefgreife­ndste gesellscha­ftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nichts zuvor hat derart stark in unser aller Alltagsleb­en eingegriff­en. Danach sind wir weitgehend zur Tagesordnu­ng übergegang­en, weil sofort die nächsten Herausford­erungen kamen. Das kann nicht gesund sein, und die Folgen spürt man noch immer. Zusammenha­lt und Vertrauen in viele Institutio­nen haben gelitten, Debatten sind toxischer geworden. Hass, Drohungen und extreme Positionen haben zugenommen. All das setzt sich jetzt fort.

Einigkeit herrscht darin, dass der Umgang mit Kindern und Jugendlich­en nicht gut gelaufen ist. Sie selbst haben es als Versäumnis des Ethikrats benannt, die Situation der jungen Menschen bis 2022 nicht genug zu berücksich­tigen. Wie konnte es dazu kommen?

Nach dem ersten Lockdown gab es erste Einschätzu­ngen von Kinderpsyc­hologen und -psychiater­n. Die haben gesagt, dass laut erster Untersuchu­ngen zum ersten Lockdown die jungen Menschen recht gut durchgekom­men sind, was auch gar nicht überrasche­nd war.

Warum?

Kinder sind anpassungs­fähig, und der erste Lockdown dauerte „nur“sieben Wochen. Vielleicht etablierte sich in der Gesellscha­ft dadurch ein wenig die Wahrnehmun­g: „The kids are alright“. Aber je länger die Pandemie andauerte, desto mehr waren viele durch die Einschränk­ungen, den mangelnden Kontakt, aber auch durch die Erfahrung der Pandemie an sich belastet. Die Effekte auf die psychische Gesundheit bei den Jüngeren zeigen sich in Ländern mit sehr unterschie­dlich strengen Maßnahmen, das scheint also nicht nur an den Maßnahmen zu hängen, sondern auch am Leben in der pandemisch­en Situation. Es gab verschiede­ne Stimmen, die darauf hingewiese­n haben, dass es unausgewog­en ist, wenn die Schulen zu sind und die Büros offen, auch ich selbst. Zu den Hochaltrig­en, die in den Pflegeheim­en über Monate isoliert lebten und einsam starben, hat der Ethikrat eine Ad-hoc-Empfehlung herausgege­ben. Zu den Jungen haben wir uns aber erst Ende 2022 geäußert. Wir haben das bedauert, mit dem heutigen Wissen würden wir das wohl anders machen.

Schon früh in der Pandemie war klar, dass das Virus für Kinder und Jugendlich­e nicht sehr gefährlich ist. War es überhaupt ethisch gerechtfer­tigt, sie zum Schutz der Älteren zu isolieren?

Wie viel Kinder zum Infektions­geschehen beitragen, war lange unklar. Und natürlich gab es auch Kinder, die selbst gefährdet waren, wegen Vorerkrank­ungen. Aber zum ethischen Punkt: Es gehört zu unseren Grundüberz­eugungen, dass wir uns alle in dieser Gesellscha­ft gegenseiti­g schützen, und da gehören die Kinder dazu. Auch sie können dazu beitragen, die Verbreitun­g eines Virus einzudämme­n; auch die Jungen können solidarisc­h sein – und wollen das ja auch oft.

Die Frage ist dann aber, wie viel man ihnen zumutet. Im Rückblick lag die Priorität bei uns wohl eher auf Arbeit und Wirtschaft, das Land sollte am Laufen gehalten werden. Das ist durchaus nachvollzi­ehbar. Doch eine der wesentlich­en Lehren ist, dass man die Jüngeren nicht so stark belasten darf wie die älteren Generation­en, dazu haben wir uns auch geäußert.

Es sind eher Erwachsene, die auf die Pandemie mit besonderem Groll zurückblic­ken. Dazu gehören Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten. Politik, Medien und Gesellscha­ft haben viel Druck ausgeübt – wie kam es dazu?

Als die Impfkampag­ne Anfang 2021 begann, wurde monatelang darüber geredet, dass es zu wenig Impfstoff gab. Es wurden Vorwürfe laut, dass nicht genug eingekauft worden war, über Ungerechti­gkeiten in der Priorisier­ung, über unzureiche­nde Organisati­on wurde viel berichtet und geredet. Gefühlt alle wollten zu dieser Zeit einen Impftermin. Am 7. Juni wurde die Priorisier­ung aufgehoben, die Lage entspannte sich etwas. Und dann auf einmal, so ab September, lag innerhalb kürzester Zeit der Fokus sehr stark auf den Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten. Das ist sehr schnell umgeschlag­en in Berichters­tattung und öffentlich­er Diskussion. Das wäre interessan­t, im Rückblick genauer anzuschaue­n und besser zu verstehen.

War der Druck gerechtfer­tigt?

Es war die Zeit der Deltavaria­nte, und zu der Zeit hat die Impfung die Ausbreitun­g deutlich verringert, dafür gibt es gute Evidenz. Das hat sich mit Omicron verschlech­tert. Als der zweite Winter der Pandemie begann, gab es im Raum München streckenwe­ise auf 100 Kilometer kein freies Bett mehr für Schlaganfa­llpatiente­n. Wer einen Schlaganfa­ll hatte, musste weit gefahren werden, das ist nicht gut fürs Gehirn. Es musste über die Verlegung schwerkran­ker Menschen von einem Bundesland ins andere nachgedach­t werden, teils ist das ja auch passiert. Und ein Großteil der Menschen, die damals auf den Intensivst­ationen lagen, waren nun einmal nicht geimpft. Das war ein Gerechtigk­eitsproble­m, das haben wir vom Ethikrat auch beschriebe­n.

Vereinzelt gab es Menschen, die durch die Impfung erkrankten oder sogar starben. Ist es nicht menschlich, wenn einen das erschreckt?

Klar, erschrecke­n ist menschlich, aber das Risiko, durch das Virus zu sehr krank zu werden oder zu sterben, war zu jedem Zeitpunkt sehr viel größer. Impfschäde­n sind sehr seltene Ausnahmen. Die rationale Entscheidu­ng war immer, sich impfen zu lassen. Das zu tun ist aber auch eine Frage des Vertrauens in Wissenscha­ft und Behörden. Wenn ich den Fachleuten etwa vom PaulEhrlic­h-Institut die Zahlen nicht glaube, dann wird es schwierig.

Wie konnte es zu der Polarisier­ung kommen?

Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich das bis heute nicht – warum sich Menschen nicht impfen lassen wollten. Ich kann es mir nur mit den vielen Fehlinform­ationen erklären, die zirkuliert­en. Es gab eine regelrecht­e „Infodemie“aus Fake News und Verschwöru­ngstheorie­n. Heute weiß man, dass da die üblichen Verdächtig­en unterwegs waren, die so etwas verbreiten, russische Bots, bekannte Verschwöru­ngsunterne­hmer und so weiter. Das ist ein Jammer. Impfungen gehören zu den wirklich großen medizinisc­hen Errungensc­haften, wegen denen wir unter anderem heute viel länger leben als die Menschen früher. Wir vom Deutschen Ethikrat haben schon 2019 eine moralische Verpflicht­ung gesehen, sich impfen zu lassen, schon vor der Pandemie. Aber noch heute bekommen wir regelmäßig Hass-E-Mails im Zusammenha­ng der Impfungen.

Sie haben auch persönlich viel Hass und Bedrohung erfahren. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Man gewöhnt sich an vieles, aber manchmal nimmt es mich schon mit. Ich habe vor einiger Zeit eine Veranstalt­ung gehabt, und da haben mich Leute richtig angebrüllt. „Sie haben über uns geredet wie über Tiere!“, wurde mir dort vorgeworfe­n. Ich war baff, weil ich dachte, dass ich eigentlich immer recht moderat spreche. Es ging um einen Satz von mir, der völlig aus dem Zusammenha­ng gerissen wurde.

Welcher war das?

Ich hatte einmal gesagt: „Jede Impfdosis muss in einen Arm.“Es ging um die Situation am Anfang der Impfstrate­gie, wenn an einem Tag nicht genügend Menschen aus der richtigen Priorisier­ungsgruppe in einem Impfzentru­m auftauchte­n. Da habe ich gesagt, dass man dann Menschen impfen sollte, die das gern hätten, bevor man die Impfdosen wegschmeiß­t. Und nun standen Menschen vor mir, die wirklich glauben, ich hätte über sie wie über Tiere geredet. Das ist nicht einfach. Aber irgendwie müssen wir es schaffen, wieder miteinande­r zu reden.

Was ist dafür nötig?

Es ist eigentlich vermessen, wenn ich mich dazu äußere, als jemand, die ein Gremium geleitet hat, das in der Pandemie beraten hat. Aber ich sage dennoch, und schon lange, drei Schritte sind notwendig: aufarbeite­n, lernen, heilen. Bei der Aufarbeitu­ng muss man sich anschauen, wie der damalige Wissenssta­nd war, über welche Faktoren nachgedach­t wurde. Das muss man dann kontrastie­ren mit dem heutigen Wissen. So kann man lernen, was verhältnis­mäßig war, was zu streng oder was auch zu spät kam.

Wie kann eine Heilung gelingen?

Im Prinzip hat das Land eine traumatisc­he Erfahrung gemacht, die wir verarbeite­n müssen. Das ist nicht meine Expertise, aber es gibt historisch­e Beispiele wie Versöhnung­skommissio­nen, verschiede­ne symbolisch­e und auch ganz praktische Dinge. Im Stuttgarte­r Raum gab es zum Beispiel ein Projekt, das heißt „Well.come.back“. Stiftungen, Vereine, Unternehme­n und Kommunalpo­litik haben sich zusammenge­schlossen und ein Aktionsbün­del für junge Menschen geschnürt, von Sportveran­staltungen, über verschiede­ne Kurse und Coachingan­gebote bis hin zu Aktionstag­en um Danke zu sagen.

Sie haben Ihre Magisterar­beit über Verteilung­sgerechtig­keit im Gesundheit­swesen geschriebe­n: Was tun, wenn es zu wenige Beatmungsg­eräte und Intensivbe­tten für zu viele Kranke gibt? Hat die Theorie Sie auf die Realität vorbereite­t?

Weil die Kollegen und ich im Ethikrat uns in der Theorie mit vielen grundsätzl­ichen Fragen beschäftig­t hatten, waren wir schnell sprechfähi­g. Die erste Empfehlung des Ethikrats haben wir am 27. März 2020 veröffentl­icht. Das ging nur, weil viele von uns einiges vorher schon einmal in der Theorie durchdacht hatten, zumindest so ähnlich. Aber als der Chef der Intensivme­dizin in München im April 2020 sagte: „Es ist absolut alles voll, wenn noch mehr kommen, dann müssen wir anfangen zu triagieren“– das war doch eine irre Erfahrung. Ich konnte auch nicht vorhersehe­n, wie lang die Pandemie dauern würde. Und ich hätte gedacht, wir kriegen manche Sachen besser hin. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Leute ernsthaft glauben, dass man sich gegen ein Virus ein Bleichmitt­el injizieren soll. Auf so was war ich definitiv nicht vorbereite­t.

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Foto: picture alliance Alena Buyx, 46, i◆t Ärztin un◆ Me◆izinethike­rin.

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