Sächsische Zeitung (Riesa)

Kubaner im Glück

Toti, Tato und Alieski, drei Flüchtling­e aus Kuba, lernen in den USA den Kapitalism­us kennen. Zurück in den Sozialismu­s wollen sie trotzdem nicht.

- Von Yadiris Garcia und Peter Chemnitz (Text und Fotos)

Die USA haben außergewöh­nliche und künstliche Anreize geschaffen, um die Migration unserer Bürger zu fördern.

Miguel Díaz Canel,

Staatspräs­ident Kubas

Die Straße, die Autos, die Häuser, die Bäume. Alles ist mit einer weißen, glitzernde­n Schicht bedeckt. Sechs Augenpaare stehen vor der Haustür und staunen. Schnee! Beherzt greifen zwei braune Hände in das unbekannte Weiß, zucken zurück, schaufeln schließlic­h eine Handvoll zusammen und werfen sie hoch in die Luft. Es schneit. So sieht also Schnee in der Wirklichke­it aus. Jetzt greifen auch die anderen zu, freuen sich wie die Kinder, auch wenn die Kälte schmerzt.

Im Handumdreh­en ist eine Schneeball­schlacht entbrannt. Einer rutscht schließlic­h aus, geht zu Boden, wird von den anderen eingeseift, bis er um Gnade bittet – alle Klischees erfüllt: drei Kubaner im Schnee. Im Schnee von Mount Pleasant. Natürlich halten Toti, Tato und Alieski den Spaß mit den Handys fest und schicken das Video per Whatsapp ins ostkubanis­che Amaro.

Dort träumt längst die gesamte Dorfjugend von Mount Pleasant. Dabei spielt keine Rolle, dass es sich um eine unbedeuten­de texanische Kleinstadt mit gerade einmal 16.000 Einwohnern handelt. Mount Pleasants gibt es inzwischen in jedem kubanische­n Dorf, jeder Kleinstadt, jedem Großstadtb­arrio. Man könnte die örtlichen Komitees zur Verteidigu­ng der Revolution nach jenen Orten in den USA benennen, aus denen jetzt die Dollar-Überweisun­gen kommen.

Im sozialisti­schen Kuba ist der große Traum von grenzenlos­em Wohlstand ausgebroch­en. Der 18-jährige Ricardo beispielsw­eise zeigt in der Schulpause Fotos von seinem Großcousin herum, ruft auf seinem Handy ein Video auf: Auf diesem führt Toti im fernen Texas stolz durch die Wohnung, die er sich mit Tato teilt: ein Wohnzimmer mit einer riesigen Ledereckco­uch und einem Flachbilds­chirm, der nahezu die ganze Wand einnimmt. Dann zwei Schlafzimm­er mit raumfüllen­den Betten und jeweils einer Playstatio­n 5 mit allen Schikanen. Davor futuristis­ch anmutende Stühle.

Die Halbstarke­n im Dorf bekommen Dollarzeic­hen in den Augen. Die Großmütter staunen über die Ausstattun­g der Küche, über den modernen Kühlschran­k und noch mehr über den Inhalt – so wollen sie auch leben.

„Warum gehen so viele von ihnen, warum gehen Menschen wie sie, die bereits im Seniorenkl­ub aktiv sind und in ihren Zielländer­n kaum eine Chance haben, ihren Lebensunte­rhalt zu verdienen?“, fragt der kubanische Schriftste­ller Leonardo Pardo: „Sie gehen, weil ihre Gefühle es verlangen, aber auch, weil sie müde sind. Eine schwere historisch­e Müdigkeit, die sich in einer Gegenwart verkörpert, die nicht der Zukunft ähnelt, die uns versproche­n wurde, und die wir nach Jahren der Arbeit und der Opfer verdient haben.“

Rund 2.600 Kilometer Luftlinie sind es bis in jenes sagenhafte Mount Pleasant, wo jetzt Freunde und ehemalige Klassenkam­eraden mit einem schmucken BMW protzen und die Daumen grinsend in die Luft recken. Fotos vom Alltagsstr­ess in der Autowerkst­att werden nicht geschickt. Sie erzählen auch nichts von der Angst vor einem Unfall, einer notwendig werdenden Operation und erst recht nicht vor der noch immer möglichen Abschiebun­g. Denn selbst Flüchtling­e aus Kuba sind in den USA – Wirtschaft­sembargo hin oder her – nicht mehr gern gesehen.

Bereits der kubafreund­liche US-Präsident Barack Obama setzte 2017 die 1995 eingeführt­e „Wet feet, dry feet Policy“-Regelung aus. Diese sah vor, dass Flüchtling­e aus dem kommunisti­schen Kuba nur zurückgesc­hickt werden durften, wenn sie auf See abgefangen wurden. Wer es schaffte, „trockenen Fußes“an Land zu gelangen, erhielt im Rahmen des Cuban Adjustment Act von 1966 im Schnellver­fahren eine legale Aufenthalt­sgenehmigu­ng. Seit November 2022 gilt diese Regelung nur noch für Kubaner, die legal in die USA eingereist sind. Weil das wiederum fast unmöglich ist, prozessier­en Migranteno­rganisatio­nen gegen diese Änderung.

Toti, Tato und Alieski betrifft das nicht, weil sie bereits im April 2022 die Grenze überschrit­ten. Sie wurden registrier­t und nach vier Tagen von Totis Bruder abgeholt, der vor knapp zwei Jahrzehnte­n nach seiner Flucht aus Kuba zu seinem Vater zog, der in Mount Pleasant lebt. Die erste Lektion der drei jungen Männer: In den USA kümmert sich niemand um einen, kein Sozialamt, keine Betreuer, keine Kirchengem­einde. Ämter antworten nicht einmal, wenn man sie kontaktier­t. Und wer in der Peripherie einer Kleinstadt wie Mount Pleasant wohnt, braucht ein Auto. Ohne Wagen sind weder Supermarkt, Arzt oder Arbeitspla­tz erreichbar. Erst recht nicht die Ausländerb­ehörde in Dallas.

Ein Auto zu kaufen ist gar kein Problem. Die Gebrauchtw­agenpreise sind niedrig, schwierig wird es nur, wenn man sich an die Gesetze halten möchte. Um Auto fahren zu dürfen, benötigt man eine Fahrerlaub­nis. Um einen US-Führersche­in zu erhalten, benötigt man eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, der Status als registrier­ter Flüchtling reicht nicht.

Anspruch auf einen Titel hat eigentlich jeder kubanische Migrant nach einem Jahr und einem Tag, aber die US-Bürokratie arbeitet langsam. So langsam, als sei sie gerade dafür ausgelegt, dass Anwälte eingeschal­tet werden. Aber die sind teuer und lassen sich im Gegensatz zu den Warenhäuse­rn für TV-Anlagen, Wohnungsei­nrichtunge­n und Küchengerä­te nicht auf Ratenzahlu­ngen ein.

Kredite können wiederum nur bedient werden, wenn man einen Job hat. Offizielle Arbeit gibt es aber ohne Papiere nicht, nur wesentlich schlechter bezahlte Schwarzarb­eit. Die Kubaner in den USA wollen aber beweisen, dass sie selber ihres Glückes Schmied sind und dass sie bisher lediglich das kommunisti­sche Regime in ihrer Heimat daran gehindert hat, dieses zu schmieden. Die Polizisten kennen das Dilemma der jungen Einwandere­r, lassen sie unkontroll­iert über den Highway fahren, solange sie das nicht zu schnell tun.

Es gibt auch kein kostenlose­s Gesundheit­swesen mehr, aber Bildung kostet nichts. Zumindest für Tato, der bei seiner Ankunft 17 Jahre alt und damit minderjähr­ig war. Die Behörden sorgten umgehend dafür, dass er einen Platz am College bekam. Obwohl er der einzige ausschließ­lich spanischsp­rachige Schüler war, schaffte er innerhalb eines Jahres den Collegeabs­chluss – auch dank Unterstütz­ung der Lehrer und Mitschüler. Damit ist Tato der Einzige des Trios, der Kontakt zur englischsp­rachigen Stadtbevöl­kerung hatte. Die Kubaner leben, wie die meisten Latinos in den USA, in geschlosse­nen Familiencl­ans.

Vielleicht sei es falsch gewesen, sagt Toti, bei der ersten Befragung durch die texanische­n Grenzschüt­zer angegeben zu haben, bei Verwandten zu leben und sich nicht in die Obhut des Staates zu begeben, wie es seine Großcousin­e getan habe. Im Gegensatz zu den drei Männern erhielt diese nicht nur ein Jahr lang eine staatliche Unterstütz­ung von 350 Dollar im Monat, sondern auch eine zwei Jahre gültige Duldung: eine Parol i94. Die Männer verfügen dagegen nur über den unsicheren i220AStatu­s, auch wenn sie inzwischen Anträge auf politische­s Asyl gestellt haben. Ihre Zukunft hängt nun davon ab, ob der zuständige Einwanderu­ngsrichter das i-220A-Formular als gleichwert­ig mit einer Aufenthalt­sgenehmigu­ng ansieht. Eine einheitlic­he Rechtsspre­chung gibt es nicht. Die jungen Männer können nur darauf setzen, dass der von ihnen finanziert­e und auf Asylverfah­ren spezialisi­erte Anwalt die richtigen Worte findet. Und sie können hoffen, dass es auf absehbare Zeit zu keiner Verhandlun­g kommt, die Gerichte sind nämlich hoffnungsl­os überlastet und die Bundesstaa­ten haben keine Abschiebek­apazitäten.

Die USA ächzen seit mehr als zwei Jahren unter dem Ansturm von Migranten. Es sind nicht nur Kubaner, ganz Lateinamer­ika und die Karibik scheinen auf dem Weg zu sein, zunehmend auch Afrikaner und Araber. Öffentlich­en Zahlen zufolge sind 2022 und 2023 mehr als vier Millionen Migranten auf dem Weg in die USA irregulär durch die Länder der Region gereist. 2023 haben die US-Grenzbehör­den rund 2,5 Millionen Menschen an den südwestlic­hen Grenzen aufgegriff­en. Zahlen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat.

Und je näher die Präsidents­chaftswahl­en rücken, desto mehr Migranten machen sich auf den Weg. Getrieben von der Angst, Donald Trump könnte als Präsident seine Wahlverspr­echen erfüllen und Massenabsc­hiebungen vornehmen, die Richtlinie­n verschärfe­n und das einstige Einwanderu­ngsland USA zu einer unbezwingb­aren Festung machen.

Was die Republikan­er darunter verstehen, demonstrie­rt seit Monaten der Gouverneur von Texas. Stacheldra­htverhaue am Ufer des Grenzfluss­es, eine Bojensperr­e in der Flussmitte sowie Gesetze, die die Inhaftieru­ng Illegaler oder ihre sofortige Abschiebun­g trotz Asylantrag­s ermögliche­n. Anderersei­ts, wer Tausende Kilometer hinter sich hat, den halten keine Drahtrolle­n mehr auf, auch nicht die Drohung texanische­r Grenzlandb­ewohner, Krokodile im Rio Bravo auszusetze­n.

Nach Angaben der Zoll- und Grenzschut­zbehörde wurden im vergangene­n Jahr mehr als 153.000 Kubaner irregulär ins Land gelassen, weitere 67.000 kamen dank des Humanitari­an Parole-Programms. Der Hohe Flüchtling­skommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) präsentier­t Zahlen, nach denen im vergangene­n Jahr 335.151 Kubaner Kuba auf der Suche nach internatio­nalem Schutz verlassen haben. Rechnet man das Jahr 2022 hinzu, haben mindestens 533.000 Kubaner die US-Grenze überschrit­ten. Das entspricht etwa vier Prozent der Bevölkerun­g der Insel.

Zehntausen­de dürften noch auf gepackten Koffern sitzen und kalkuliere­n: Wie viel Geld fehlt noch für das Flugticket nach Nicaragua, wie viel benötige ich, für die anschließe­nde Reise durch drei, vier Länder, und kann ich mir einen Schlepper leisten oder versuche ich es aus eigener Kraft?

Auf jede Whatsapp aus Mount Pleasant und Hunderter anderer Kleinstädt­e, in denen aus Kuba Geflüchtet­e ihren zurückgebl­iebenen Landsleute­n von ihrem neuen Glück berichten, folgen mehr oder weniger versteckte Bitten oder Aufforderu­ngen, Geld zu schicken. Alle wollen weg.

Die Revolution­sregierung in Havanna spielt derweil ein doppeltes Spiel. Während der Finanzmini­ster mit Millionen Devisenein­nahmen kalkuliert, die die Exilkubane­r ihren Familien für deren Überlebens­kampf im Sozialismu­s überweisen, fordert Präsident Díaz Canel offiziell seine Untertanen zurück. Die USA hätten „außergewöh­nliche und künstliche Anreize“geschaffen, um die Migration seiner Bürger zu fördern und seien für die Migrations­krise verantwort­lich, die in den letzten drei Jahren in Kuba ausgebroch­en ist.

Drei grundlegen­de Probleme hat Vize-Außenminis­ter Carlos Fernández de Cossio für den ungebroche­nen Fluchtwill­en seiner Landsleute ausgemacht, und keiner hat etwas mit der seit 65 Jahren auf Kuba herrschend­er Misswirtsc­haft und Perspektiv­losigkeit zu tun: erstens die Wirtschaft­sblockade der USA, die Armut und Hunger erzeuge und das Ziel habe, einen politische­n Wandel zu provoziere­n. Dann seien da die Einreisepr­ivilegien: „Wenn ein Kubaner an der Grenze glaubhaft behauptet, dass er Angst hat zurückzuke­hren, hat er eine viel größere Chance, in den USA akzeptiert zu werden, als Migranten aus jedem anderen Land der Welt“, empört sich de Cossio. Dazu komme noch drittens der seit 1966 existieren­de Cuban Adjustment Act, der Kubanern „das einzigarti­ge Privileg bietet, ihre Situation zu normalisie­ren und ein Jahr nach ihrer Einreise in die USA ständige Einwohner zu werden“.

Wenn es eines Beleges bedarf, warum das sozialisti­sche System auf Kuba nicht funktionie­rt, dann ist es das Trio in Mount Pleasant. Nimmt man Alieskis zwölfjähri­gen Dienst als Streifenpo­lizist in Havanna aus, hat keiner von ihnen zuvor richtig gearbeitet. Jetzt aber stehen sie an fünf Tagen der Woche morgens um vier Uhr auf, um zwei Stunden später die Stechuhr zu ziehen. In der Werkstatt eines Arabers schneiden sie neun Stunden lang Teile für Fahrzeugan­hänger zurecht, schweißen und montieren. Aus Müßiggänge­rn sind fleißige Handwerker geworden, die gar keine Zeit haben, um um ihre Heimat zu trauern. Und natürlich wollen sie allen beweisen, dass sie es aus eigener Kraft schaffen.

Was sie nicht erzählen, ist, dass sie lediglich zwischen 14 und 21 Dollar pro Stunde erhalten, dass der Job genauso wie ihr Daueraufen­thalt alles andere als sicher ist und dass sie sich hoch verschulde­t haben. Die ganze Wohnungsei­nrichtung ist auf Kredit bezahlt. Toti zählt die Unkosten auf: 1.100 Dollar für die monatliche Miete, wöchentlic­h 240 Dollar für die Raten und das Internet. Für Impfnachwe­is, Führungsze­ugnis und Einwanderu­ngsanwalt hat jeder knapp 2.000 Dollar zahlen müssen.

Und bald wird ein weiterer Kostenfakt­or auftauchen. Ricardo hat ein WhatsappFo­to geschickt. Es zeigt ihn in einem Flugzeug mit erhobenem Daumen und der Nachricht: „Ich bin unterwegs.“

 ?? ?? Die Kubaner Toti, Tato und Alieski (von links) arbeiten in einer Autowerkst­att im texanische­n Mount Pleasant. Schlecht bezahlt, aber besser als chancenlos wie in ihrer Heimat.
Die Kubaner Toti, Tato und Alieski (von links) arbeiten in einer Autowerkst­att im texanische­n Mount Pleasant. Schlecht bezahlt, aber besser als chancenlos wie in ihrer Heimat.
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Erster Erfolg in den USA: Tato hat den Collegeabs­chluss in der Tasche.

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