Kubaner im Glück
Toti, Tato und Alieski, drei Flüchtlinge aus Kuba, lernen in den USA den Kapitalismus kennen. Zurück in den Sozialismus wollen sie trotzdem nicht.
Die USA haben außergewöhnliche und künstliche Anreize geschaffen, um die Migration unserer Bürger zu fördern.
Miguel Díaz Canel,
Staatspräsident Kubas
Die Straße, die Autos, die Häuser, die Bäume. Alles ist mit einer weißen, glitzernden Schicht bedeckt. Sechs Augenpaare stehen vor der Haustür und staunen. Schnee! Beherzt greifen zwei braune Hände in das unbekannte Weiß, zucken zurück, schaufeln schließlich eine Handvoll zusammen und werfen sie hoch in die Luft. Es schneit. So sieht also Schnee in der Wirklichkeit aus. Jetzt greifen auch die anderen zu, freuen sich wie die Kinder, auch wenn die Kälte schmerzt.
Im Handumdrehen ist eine Schneeballschlacht entbrannt. Einer rutscht schließlich aus, geht zu Boden, wird von den anderen eingeseift, bis er um Gnade bittet – alle Klischees erfüllt: drei Kubaner im Schnee. Im Schnee von Mount Pleasant. Natürlich halten Toti, Tato und Alieski den Spaß mit den Handys fest und schicken das Video per Whatsapp ins ostkubanische Amaro.
Dort träumt längst die gesamte Dorfjugend von Mount Pleasant. Dabei spielt keine Rolle, dass es sich um eine unbedeutende texanische Kleinstadt mit gerade einmal 16.000 Einwohnern handelt. Mount Pleasants gibt es inzwischen in jedem kubanischen Dorf, jeder Kleinstadt, jedem Großstadtbarrio. Man könnte die örtlichen Komitees zur Verteidigung der Revolution nach jenen Orten in den USA benennen, aus denen jetzt die Dollar-Überweisungen kommen.
Im sozialistischen Kuba ist der große Traum von grenzenlosem Wohlstand ausgebrochen. Der 18-jährige Ricardo beispielsweise zeigt in der Schulpause Fotos von seinem Großcousin herum, ruft auf seinem Handy ein Video auf: Auf diesem führt Toti im fernen Texas stolz durch die Wohnung, die er sich mit Tato teilt: ein Wohnzimmer mit einer riesigen Ledereckcouch und einem Flachbildschirm, der nahezu die ganze Wand einnimmt. Dann zwei Schlafzimmer mit raumfüllenden Betten und jeweils einer Playstation 5 mit allen Schikanen. Davor futuristisch anmutende Stühle.
Die Halbstarken im Dorf bekommen Dollarzeichen in den Augen. Die Großmütter staunen über die Ausstattung der Küche, über den modernen Kühlschrank und noch mehr über den Inhalt – so wollen sie auch leben.
„Warum gehen so viele von ihnen, warum gehen Menschen wie sie, die bereits im Seniorenklub aktiv sind und in ihren Zielländern kaum eine Chance haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen?“, fragt der kubanische Schriftsteller Leonardo Pardo: „Sie gehen, weil ihre Gefühle es verlangen, aber auch, weil sie müde sind. Eine schwere historische Müdigkeit, die sich in einer Gegenwart verkörpert, die nicht der Zukunft ähnelt, die uns versprochen wurde, und die wir nach Jahren der Arbeit und der Opfer verdient haben.“
Rund 2.600 Kilometer Luftlinie sind es bis in jenes sagenhafte Mount Pleasant, wo jetzt Freunde und ehemalige Klassenkameraden mit einem schmucken BMW protzen und die Daumen grinsend in die Luft recken. Fotos vom Alltagsstress in der Autowerkstatt werden nicht geschickt. Sie erzählen auch nichts von der Angst vor einem Unfall, einer notwendig werdenden Operation und erst recht nicht vor der noch immer möglichen Abschiebung. Denn selbst Flüchtlinge aus Kuba sind in den USA – Wirtschaftsembargo hin oder her – nicht mehr gern gesehen.
Bereits der kubafreundliche US-Präsident Barack Obama setzte 2017 die 1995 eingeführte „Wet feet, dry feet Policy“-Regelung aus. Diese sah vor, dass Flüchtlinge aus dem kommunistischen Kuba nur zurückgeschickt werden durften, wenn sie auf See abgefangen wurden. Wer es schaffte, „trockenen Fußes“an Land zu gelangen, erhielt im Rahmen des Cuban Adjustment Act von 1966 im Schnellverfahren eine legale Aufenthaltsgenehmigung. Seit November 2022 gilt diese Regelung nur noch für Kubaner, die legal in die USA eingereist sind. Weil das wiederum fast unmöglich ist, prozessieren Migrantenorganisationen gegen diese Änderung.
Toti, Tato und Alieski betrifft das nicht, weil sie bereits im April 2022 die Grenze überschritten. Sie wurden registriert und nach vier Tagen von Totis Bruder abgeholt, der vor knapp zwei Jahrzehnten nach seiner Flucht aus Kuba zu seinem Vater zog, der in Mount Pleasant lebt. Die erste Lektion der drei jungen Männer: In den USA kümmert sich niemand um einen, kein Sozialamt, keine Betreuer, keine Kirchengemeinde. Ämter antworten nicht einmal, wenn man sie kontaktiert. Und wer in der Peripherie einer Kleinstadt wie Mount Pleasant wohnt, braucht ein Auto. Ohne Wagen sind weder Supermarkt, Arzt oder Arbeitsplatz erreichbar. Erst recht nicht die Ausländerbehörde in Dallas.
Ein Auto zu kaufen ist gar kein Problem. Die Gebrauchtwagenpreise sind niedrig, schwierig wird es nur, wenn man sich an die Gesetze halten möchte. Um Auto fahren zu dürfen, benötigt man eine Fahrerlaubnis. Um einen US-Führerschein zu erhalten, benötigt man eine Aufenthaltsgenehmigung, der Status als registrierter Flüchtling reicht nicht.
Anspruch auf einen Titel hat eigentlich jeder kubanische Migrant nach einem Jahr und einem Tag, aber die US-Bürokratie arbeitet langsam. So langsam, als sei sie gerade dafür ausgelegt, dass Anwälte eingeschaltet werden. Aber die sind teuer und lassen sich im Gegensatz zu den Warenhäusern für TV-Anlagen, Wohnungseinrichtungen und Küchengeräte nicht auf Ratenzahlungen ein.
Kredite können wiederum nur bedient werden, wenn man einen Job hat. Offizielle Arbeit gibt es aber ohne Papiere nicht, nur wesentlich schlechter bezahlte Schwarzarbeit. Die Kubaner in den USA wollen aber beweisen, dass sie selber ihres Glückes Schmied sind und dass sie bisher lediglich das kommunistische Regime in ihrer Heimat daran gehindert hat, dieses zu schmieden. Die Polizisten kennen das Dilemma der jungen Einwanderer, lassen sie unkontrolliert über den Highway fahren, solange sie das nicht zu schnell tun.
Es gibt auch kein kostenloses Gesundheitswesen mehr, aber Bildung kostet nichts. Zumindest für Tato, der bei seiner Ankunft 17 Jahre alt und damit minderjährig war. Die Behörden sorgten umgehend dafür, dass er einen Platz am College bekam. Obwohl er der einzige ausschließlich spanischsprachige Schüler war, schaffte er innerhalb eines Jahres den Collegeabschluss – auch dank Unterstützung der Lehrer und Mitschüler. Damit ist Tato der Einzige des Trios, der Kontakt zur englischsprachigen Stadtbevölkerung hatte. Die Kubaner leben, wie die meisten Latinos in den USA, in geschlossenen Familienclans.
Vielleicht sei es falsch gewesen, sagt Toti, bei der ersten Befragung durch die texanischen Grenzschützer angegeben zu haben, bei Verwandten zu leben und sich nicht in die Obhut des Staates zu begeben, wie es seine Großcousine getan habe. Im Gegensatz zu den drei Männern erhielt diese nicht nur ein Jahr lang eine staatliche Unterstützung von 350 Dollar im Monat, sondern auch eine zwei Jahre gültige Duldung: eine Parol i94. Die Männer verfügen dagegen nur über den unsicheren i220AStatus, auch wenn sie inzwischen Anträge auf politisches Asyl gestellt haben. Ihre Zukunft hängt nun davon ab, ob der zuständige Einwanderungsrichter das i-220A-Formular als gleichwertig mit einer Aufenthaltsgenehmigung ansieht. Eine einheitliche Rechtssprechung gibt es nicht. Die jungen Männer können nur darauf setzen, dass der von ihnen finanzierte und auf Asylverfahren spezialisierte Anwalt die richtigen Worte findet. Und sie können hoffen, dass es auf absehbare Zeit zu keiner Verhandlung kommt, die Gerichte sind nämlich hoffnungslos überlastet und die Bundesstaaten haben keine Abschiebekapazitäten.
Die USA ächzen seit mehr als zwei Jahren unter dem Ansturm von Migranten. Es sind nicht nur Kubaner, ganz Lateinamerika und die Karibik scheinen auf dem Weg zu sein, zunehmend auch Afrikaner und Araber. Öffentlichen Zahlen zufolge sind 2022 und 2023 mehr als vier Millionen Migranten auf dem Weg in die USA irregulär durch die Länder der Region gereist. 2023 haben die US-Grenzbehörden rund 2,5 Millionen Menschen an den südwestlichen Grenzen aufgegriffen. Zahlen, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat.
Und je näher die Präsidentschaftswahlen rücken, desto mehr Migranten machen sich auf den Weg. Getrieben von der Angst, Donald Trump könnte als Präsident seine Wahlversprechen erfüllen und Massenabschiebungen vornehmen, die Richtlinien verschärfen und das einstige Einwanderungsland USA zu einer unbezwingbaren Festung machen.
Was die Republikaner darunter verstehen, demonstriert seit Monaten der Gouverneur von Texas. Stacheldrahtverhaue am Ufer des Grenzflusses, eine Bojensperre in der Flussmitte sowie Gesetze, die die Inhaftierung Illegaler oder ihre sofortige Abschiebung trotz Asylantrags ermöglichen. Andererseits, wer Tausende Kilometer hinter sich hat, den halten keine Drahtrollen mehr auf, auch nicht die Drohung texanischer Grenzlandbewohner, Krokodile im Rio Bravo auszusetzen.
Nach Angaben der Zoll- und Grenzschutzbehörde wurden im vergangenen Jahr mehr als 153.000 Kubaner irregulär ins Land gelassen, weitere 67.000 kamen dank des Humanitarian Parole-Programms. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) präsentiert Zahlen, nach denen im vergangenen Jahr 335.151 Kubaner Kuba auf der Suche nach internationalem Schutz verlassen haben. Rechnet man das Jahr 2022 hinzu, haben mindestens 533.000 Kubaner die US-Grenze überschritten. Das entspricht etwa vier Prozent der Bevölkerung der Insel.
Zehntausende dürften noch auf gepackten Koffern sitzen und kalkulieren: Wie viel Geld fehlt noch für das Flugticket nach Nicaragua, wie viel benötige ich, für die anschließende Reise durch drei, vier Länder, und kann ich mir einen Schlepper leisten oder versuche ich es aus eigener Kraft?
Auf jede Whatsapp aus Mount Pleasant und Hunderter anderer Kleinstädte, in denen aus Kuba Geflüchtete ihren zurückgebliebenen Landsleuten von ihrem neuen Glück berichten, folgen mehr oder weniger versteckte Bitten oder Aufforderungen, Geld zu schicken. Alle wollen weg.
Die Revolutionsregierung in Havanna spielt derweil ein doppeltes Spiel. Während der Finanzminister mit Millionen Deviseneinnahmen kalkuliert, die die Exilkubaner ihren Familien für deren Überlebenskampf im Sozialismus überweisen, fordert Präsident Díaz Canel offiziell seine Untertanen zurück. Die USA hätten „außergewöhnliche und künstliche Anreize“geschaffen, um die Migration seiner Bürger zu fördern und seien für die Migrationskrise verantwortlich, die in den letzten drei Jahren in Kuba ausgebrochen ist.
Drei grundlegende Probleme hat Vize-Außenminister Carlos Fernández de Cossio für den ungebrochenen Fluchtwillen seiner Landsleute ausgemacht, und keiner hat etwas mit der seit 65 Jahren auf Kuba herrschender Misswirtschaft und Perspektivlosigkeit zu tun: erstens die Wirtschaftsblockade der USA, die Armut und Hunger erzeuge und das Ziel habe, einen politischen Wandel zu provozieren. Dann seien da die Einreiseprivilegien: „Wenn ein Kubaner an der Grenze glaubhaft behauptet, dass er Angst hat zurückzukehren, hat er eine viel größere Chance, in den USA akzeptiert zu werden, als Migranten aus jedem anderen Land der Welt“, empört sich de Cossio. Dazu komme noch drittens der seit 1966 existierende Cuban Adjustment Act, der Kubanern „das einzigartige Privileg bietet, ihre Situation zu normalisieren und ein Jahr nach ihrer Einreise in die USA ständige Einwohner zu werden“.
Wenn es eines Beleges bedarf, warum das sozialistische System auf Kuba nicht funktioniert, dann ist es das Trio in Mount Pleasant. Nimmt man Alieskis zwölfjährigen Dienst als Streifenpolizist in Havanna aus, hat keiner von ihnen zuvor richtig gearbeitet. Jetzt aber stehen sie an fünf Tagen der Woche morgens um vier Uhr auf, um zwei Stunden später die Stechuhr zu ziehen. In der Werkstatt eines Arabers schneiden sie neun Stunden lang Teile für Fahrzeuganhänger zurecht, schweißen und montieren. Aus Müßiggängern sind fleißige Handwerker geworden, die gar keine Zeit haben, um um ihre Heimat zu trauern. Und natürlich wollen sie allen beweisen, dass sie es aus eigener Kraft schaffen.
Was sie nicht erzählen, ist, dass sie lediglich zwischen 14 und 21 Dollar pro Stunde erhalten, dass der Job genauso wie ihr Daueraufenthalt alles andere als sicher ist und dass sie sich hoch verschuldet haben. Die ganze Wohnungseinrichtung ist auf Kredit bezahlt. Toti zählt die Unkosten auf: 1.100 Dollar für die monatliche Miete, wöchentlich 240 Dollar für die Raten und das Internet. Für Impfnachweis, Führungszeugnis und Einwanderungsanwalt hat jeder knapp 2.000 Dollar zahlen müssen.
Und bald wird ein weiterer Kostenfaktor auftauchen. Ricardo hat ein WhatsappFoto geschickt. Es zeigt ihn in einem Flugzeug mit erhobenem Daumen und der Nachricht: „Ich bin unterwegs.“