Wenn ein Mensch einfach nur Menschliches tut
Der Kinofilm „One Life“erzählt so leise wie ergreifend die Geschichte des Briten Nicholas Winton, der 669 Kinder vor den Nazis gerettet hat.
Die Stunde der Humanisten hört nie auf zu schlagen. Ihre Uhr tickt unabhängig von Orten, losgelöst von Epochen, eher leise zumeist für sich selbst. Viel Aufhebens um das, was sie tun für die Menschen, machen sie nicht, es sind andere, die es betonen, und sehr gern das Kino, wenn es sich auf wahre Begebenheiten beruft. Wie im Fall des von Queen Elizabeth zum Ritter geschlagenen Nicholas Winton. Die wohl wichtigste Ehrung allerdings kam für ihn vom Leben selbst: Er wurde 106 Jahre alt.
Die nächste Hommage gibt es postum. Ein Sir spielt den Sir. Anthony Hopkins, heute 86-jährig, der schon vor einigen Jahren gänzlich aufhören wollte mit Kino, hat in „One Life“noch einmal einen bewegenden Auftritt, und das mit aller Zurückhaltung, ganz im Dienste einer Lebensgeschichte, ein weiteres Mal beeindruckend im minimalistischen Gestus, der sich speist aus weltläufiger Emotion und britischem Humor. Schon 2020 holte man für Hopkins’ Part in „The Father“die alte Phrase von der idealen letzten Rolle heraus, diesmal ist es nicht viel anders. Und er? Dreht einfach weiter.
Fünf Jahrzehnte liegen zwischen beiden Erzählebenen von „One Life“. Anthony Hopkins ist 1988 zu sehen, Johnny Flynn übernimmt den jungen Nicholas Winton 1938. Noch im stolzen Rentenalter kann es der ehemalige Börsenmakler nicht lassen, die Radionachrichten von den Märkten zu kommentieren. „Kommt davon, wenn man nicht reguliert“, murmelt er in seinem Arbeitszimmer über fallende Kurse, dort, wo ein wenig Chaos herrscht.
In einer der Schubladen liegt eine braune Ledermappe, und die hat mit Finanzunterlagen so überhaupt nichts zu tun. „Du musst loslassen“, sagt Wintons Ehefrau Grete (Lena Olin) zu ihm. „Zu deinem eigenen Wohl.“Sie ahnt wohl ein nächstes Mal, dass ihr Gatte genau das nicht vorhat. Noch immer engagiert er sich karitativ in Maidenhead, unweit von London, wo das Haus der Familie steht. Gut, die Beschäftigung am Sorgentelefon ist er jetzt los, weil er einer sterbewilligen Seniorin einen richtig guten Rat gegeben hat, aber das tut für ihn nicht viel zur Sache. Beim Sprung in den Pool, beim Eintauchen ins Wasser kommen in ihm manchmal die alten Bilder wieder hoch aus einer Zeit, da er Entscheidungen für sich und ihm fremde Menschen zu treffen hatte, Entscheidungen von immenser Bedeutung. Damals in den Dreißigerjahren, damals in Prag.
Die Politik hatte das Sagen. Es wurde taktiert und paktiert. Das Sudetenland wurde von Deutschland einverleibt, die dort lebende Bevölkerung vertrieben. Zu
Tausenden fanden sich Frauen, Männer, Kinder in Lagern wieder, ihr Schicksal wird sich aufs Heftigste in die europäische Geschichtsschreibung einbrennen. Dennoch ist da eine Zahl, die durch „One Life“noch einmal neu ins rechte Licht der Hoffnung rückt: 669. Exakt so viele zumeist jüdische Kinder wurden von Nicholas Winton, damals keine 30 Jahre jung, und seinen wichtigsten Helfern nach England gebracht und somit gerettet.
Sie waren zum Teil schon in Prag unbegleitet oder aber wurden mit dem Einverständnis ihrer Eltern in Obhut gegeben. Zusammen mit seiner Mutter Babette (Helena Bonham Carter), die forsch und beherzt in London die Behörden aufmischt, und der unerschütterlichen Kraft von Doreen Wariner (Romola Garai) und Trevor Chadwick (Alex Sharp) vom Britischen Komitee für Flüchtlinge in der Tschechoslowakei, handelte Nicholas Winton als, wie er sagte, „Europäer, Sozialist und Agnostiker“und ebenso als Enkel von nach England eingewanderten deutschen Juden. Priorität aber hatte sein Ansinnen, Kinder jeglichen Glaubens zu retten.
Es brauchte Geld dafür, Geduld, Kontakte, Patenfamilien, Listen, Pässe, Stempel, Unter- und Überredungen, Vertrauen, mahlende Mühlen gegen Skepsis. Es brauchte Schnelligkeit und kein Zaudern, denn dass die Grenzen bald dicht sein und die einmarschierten Nazis just jene Züge nach
London verhindern würden, war angezeigt. Acht Transporte waren möglich, der neunte nicht mehr. Bis ins hohe Alter hätten ihren Vater aufreibende Gedanken daran verfolgt, wie viele Kinder er vielleicht hätte noch retten können, schrieb Wintons Tochter Barbara. Auf ihrem Buch „If It’s Not Impossible …“fußt die Recherche fürs Drehbuch.
Regisseur James Hawes ist es hoch anzurechnen, dass er die Zeitebenen von „One Life“nicht zu vordergründig mit gängiger Filmsymbolik auflädt. In Prag kommt er natürlich an dringlichen Bildern von angstvollen Kinderaugen nicht vorbei, findet jedoch schon hier wunderbare leise, einfach andere Momente. Auch Büros, Straßen und der Prager Hauptbahnhof, wo heute eine Statue an Nicholas Winton und die humanistische Aktion erinnert, werden zentrale Handlungsorte. Dann, nach wiederkehrenden Zeitsprüngen, setzt Hawes voll auf Anthony Hopkins und seine Strahlkraft als Mann, der noch immer Entscheidungen treffen mag, und wenn es geht, die richtigen. Resolut verweigert er sich beispielsweise einem ignoranten Lokaljournalisten, der aus persönlichen Erinnerungen erst dann Nutzen ziehen will, als der Inhalt von Wintons brauner Ledermappe durch eine landesweit ausgestrahlte Fernsehsendung für Furore gesorgt hat.
Just in dieser, bis dato von denkenden und belesenen Menschen wie Nicholas Winton eher belächelten Show „That’s Life“, kommt es zum späten Herzstück im Leben des Humanisten und gleichsam zum Herzstück dieses Spielfilms über ihn: Er trifft einige seiner „Nicky-Kinder“wieder. Im TV-Studio und damit am Filmset sitzen bald einige von deren Nachfahren, 6.000, besagen Schätzungen, sollen es insgesamt sein. Die Dramaturgie läuft hier im Grunde aus sich selbst heraus. Hopkins ist, auch als Schauspieler privat überwältigt, mittendrin, und wieder dominiert Zurückhaltung die Inszenierung, flankiert von Volker Bertelmanns behutsamer Musik.
Und so erzählt „One Life“die nächste Geschichte einer Mission und die eines sehr individuellen, sehr freien Willens, als Mensch Menschliches zu tun und somit zeitlos Bedeutendes.
Der Film läuft im Programmkino Ost und in der Schauburg (beides Dresden).