Als der Wirt noch Nägel verkaufte
Interview Im Kloster Irsee steht die Bier- und Wirtshauskultur im Mittelpunkt. Ein Experte erklärt, was sich verändert hat und warum die Gaststätte früher das Dorfzentrum war
Herr Fassl, als Heimatpfleger des Bezirks Schwaben veranstalten Sie derzeit die Tagung „Bier- und Wirtshauskultur in Schwaben und Franken“im Kloster Irsee (Ostallgäu). Was waren denn früher die Funktionen eines Wirtshauses? Peter Fassl: Die waren sehr vielseitig: In kleinen Orten war es oft ein Gerichtshaus. Die Zünfte, Gemeinderäte und Kirchenstiftungen haben darin ihre Versammlungen abgehalten. Und wenn es etwas zu feiern gab, fand auch das immer im Wirtshaus statt – es war der einzige Ort im Dorf, wo getanzt und musiziert wurde. Immer wenn ein Geschäft abgeschlossen wurde, wurde das anschließend mit einem kleinen Trunk besiegelt. Außerdem war der Wirt auch eine Art kleiner Händler. Neben Brot, Wein und Bier konnte man bei ihm auch Kramerwaren kaufen: Eisenwaren wie Nägel, Talg, Salz – eben alles, was man im Dorf so brauchte. Er hat auch kleine Kredite gegeben. Im Wirtshaus kamen immer alle zusammen, auch weil im 19. Jahrhundert dort Zeitungen auslagen. Es gab also Informationen. Das Wirtshaus war also das Zentrum des Ortes? Fassl: Definitiv. Das erkennt man auch daran, dass die alten Wirtshäuser in den Orten meistens nach den Kirchen das größte und schönste Gebäude sind. Die Wirte waren im Dorf sehr angesehen. Sie waren wohlhabend und gehörten der Oberschicht an. Im 19. Jahrhundert stellten die Brauer, Posthalter und Wirte auch die meisten Abgeordneten.
Wie weit geht die Wirtshauskultur zurück? Und wie sieht es heute aus? Fassl: Die ersten Quellen stammen schon aus dem 12. Jahrhundert. Schwaben war damals politisch sehr kleinräumig. Ab 1500 gab es weit über 100 Territorien, von denen jedes mindestens ein eigenes Wirtshaus hatte, weil die Steuer auf Wein und Bier eine gute Einnahmequelle für die Grundherren war. Um 1800 hatte Schwaben dann die höchste Dichte an Wirtshäusern in ganz Bayern, damals waren es rund 1100 Stück. Heute ist das genaue Gegenteil der Fall – fast jede zweite Ortschaft, etwa 45 Prozent, hat hier keine Schankwirtschaft mehr. Das ist der höchste Wert in Bayern.
Sollte man die Wirtshäuser nicht erhalten, wenn sie so wichtig für die Dorfgemeinschaft sind? Fassl: Es gibt Aktivitäten, sie wieder mehr zu beleben. Aber das hängt stark von der Dorfgemeinschaft ab. Das gesellschaftliche Leben hat sich verändert. Es gibt viele Orte, in denen eine Menge Zugezogene oder Pendler wohnen und in denen die Nachfrage nach so einem Zentrum nicht groß ist. Dort läuft eben vieles privater, die Leute würden nicht in die Gaststätte gehen, weil sie da sowieso niemanden kennen. Aber wenn der Wille da ist und sich zum Beispiel die Vereine dafür einsetzen, dann ist so ein Wirtshaus eine gute Sache für den Ort.
Und die Braukultur ...? Fassl: Früher war das Wirtshaus mit dem Recht verbunden, Bier zu brauen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Schwaben sogar die höchste Brauereidichte Bayerns. Nach dem Ersten Weltkrieg hat die Zahl dann aber stark abgenommen, auch wenn es bis in die jüngere Vergangenheit kleine Wirtshausbrauereien gab.
Wie sieht es heute aus? Fassl: Im Laufe der Zeit gab es einen wirtschaftlichen Konzentrationsprozess: Kleinere Brauereien haben sich zu größeren zusammengeschlossen oder andere übernommen. Durch neues Wissen und neue Technik wurde das Bier länger haltbar und konnte exportiert werden. Das konnte sich eine kleine Brauerei nicht so gut leisten. Heute gibt es in Schwaben noch 86 Brauereien. Aber es gibt wieder eine leichte Trendwende: Kleine Betriebe tauchen wieder vermehrt auf und finden durch Craft-Biere oder hochwertige Qualität ihren Abnehmermarkt. Für die Region ist das eine Chance: Schwaben hat quantitativ und qualitativ eine große Bier-Vielfalt.
Interview: Jan-Mirko Linse
Peter Fassl, 61, aus Augsburg ist Historiker und seit 1987, also seit fast 30 Jahren, Heimatpfleger des Bezirks Schwaben.