Schwabmünchner Allgemeine

Bleibt die Menschlich­keit auf der Strecke? Mein Augsburg

Es wird viel geklagt über zunehmende­n Egoismus und Verfall von Sitten und Anstand. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, erlebt aber auch das Gegenteil davon

- VON ALFRED SCHMIDT

Handschlag besiegelt wurde und dieses Vertrauen wie in Stein gemeißelt war, benötigt man heute mindestens einen Anwalt samt Aktenordne­r voller Schriftsät­ze. Vermisst werden auch ehrliche Finder. Gibt es die überhaupt noch? Vieles scheint sich zum Schlechter­en zu wenden. Wirklich? Oder meinen wir das nur, weil wir immer mehr dazu neigen, vor allem das Negative in der Welt wahrzunehm­en?

In Wirklichke­it könnte doch jeder von uns auch sehr viel Positives vom menschlich­en Miteinande­r berichten. Dies schoss mir spontan durch den Kopf, als ich diese Woche in unserer Zeitung über einen Dachstuhlb­rand in Oberhausen las. Die Bewohner hatten sich ins Freie retten können. Sie machten sich aber Sorgen um einen obdachlose­n Mann, der öfter im Dachstuhl sein Nachtquart­ier aufschlug. Er tat dies nicht heimlich, indem er sich ins Haus schlich. Bewohner ließen ihn vielmehr herein, wenn er abends klingelte. Die Öffentlich­keit erfuhr infolge des Brandes von einer menschlich­en Geste, um die nicht viel Aufhebens gemacht worden war. Da legten Menschen einfach ein Mitgefühl an den Tag, das ihnen wahrschein­lich als etwas Selbstvers­tändliches erschien. Zur Beruhigung: Der Obdachlose war zum Zeitpunkt des Feuers glückliche­rweise nicht im Haus gewesen.

Ich dachte weiter darüber nach, was mir während der letzten Woche noch so aufgefalle­n war an positiven Beispielen. Mir fiel ein, dass mir eine ältere Freundin gerade erst erzählte, wie ihrem Mann geholfen wurde, als er neulich auf der Straße wegen eines Kreislaufk­ollapses zusammenbr­ach. Sofort liefen viele Leute herbei, um zu helfen. Zwei Männer packten an und setzten den Armen auf eine Bank, während eine Verkäuferi­n aus einer Bäckerei mit einem Glas Wasser angelaufen kam. Jemand rief den Notarzt, während immer mehr Leute stehen blieben und fragten, wie sie helfen können. Dem Mann geht es inzwischen wieder gut. Meine Freundin aber sieht seit dem Vorfall die Welt mit anderen Augen. Sie sagt: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Menschen so hilfsberei­t sind.“Oder meine Beobachtun­g in Augsburger Straßencaf­és, wo ein älteres Männlein mit Gehwägelch­en Kunststück­e mit Bällen und Ringen aufzuführe­n versucht. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Das Jonglieren hat er früher perfekt beherrscht, es war ein Genuss ihm zuzusehen. Heute erschrickt man darüber, wie grausam das Alter zuschlagen kann. Der Mann gibt sich alle Mühe, doch es gelingt ihm nichts mehr.

Und was machen die Augsburger? Sie reichen ihm ihre Spende wie eh und je. Manche laufen ihm mit den Münzen sogar hinterher. Sie sind gerührt vom Auftritt des gebrechlic­hen Straßenkün­stlers, der verzweifel­t darum kämpft, als Jongleur an seine guten Tage anzuknüpfe­n. Bei allen Klagen über den angebliche­n Verfall von Sitten und Anstand: Wenn man genau hinschaut, gibt es noch viel Menschlich­keit und Herzlichke­it zu entdecken. Es ist häufig nur eine Frage der Wahrnehmun­g.

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Symbolfoto: Kirstges In einem Notfall helfen viel mehr Menschen als man denkt.

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