Bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke? Mein Augsburg
Es wird viel geklagt über zunehmenden Egoismus und Verfall von Sitten und Anstand. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, erlebt aber auch das Gegenteil davon
Handschlag besiegelt wurde und dieses Vertrauen wie in Stein gemeißelt war, benötigt man heute mindestens einen Anwalt samt Aktenordner voller Schriftsätze. Vermisst werden auch ehrliche Finder. Gibt es die überhaupt noch? Vieles scheint sich zum Schlechteren zu wenden. Wirklich? Oder meinen wir das nur, weil wir immer mehr dazu neigen, vor allem das Negative in der Welt wahrzunehmen?
In Wirklichkeit könnte doch jeder von uns auch sehr viel Positives vom menschlichen Miteinander berichten. Dies schoss mir spontan durch den Kopf, als ich diese Woche in unserer Zeitung über einen Dachstuhlbrand in Oberhausen las. Die Bewohner hatten sich ins Freie retten können. Sie machten sich aber Sorgen um einen obdachlosen Mann, der öfter im Dachstuhl sein Nachtquartier aufschlug. Er tat dies nicht heimlich, indem er sich ins Haus schlich. Bewohner ließen ihn vielmehr herein, wenn er abends klingelte. Die Öffentlichkeit erfuhr infolge des Brandes von einer menschlichen Geste, um die nicht viel Aufhebens gemacht worden war. Da legten Menschen einfach ein Mitgefühl an den Tag, das ihnen wahrscheinlich als etwas Selbstverständliches erschien. Zur Beruhigung: Der Obdachlose war zum Zeitpunkt des Feuers glücklicherweise nicht im Haus gewesen.
Ich dachte weiter darüber nach, was mir während der letzten Woche noch so aufgefallen war an positiven Beispielen. Mir fiel ein, dass mir eine ältere Freundin gerade erst erzählte, wie ihrem Mann geholfen wurde, als er neulich auf der Straße wegen eines Kreislaufkollapses zusammenbrach. Sofort liefen viele Leute herbei, um zu helfen. Zwei Männer packten an und setzten den Armen auf eine Bank, während eine Verkäuferin aus einer Bäckerei mit einem Glas Wasser angelaufen kam. Jemand rief den Notarzt, während immer mehr Leute stehen blieben und fragten, wie sie helfen können. Dem Mann geht es inzwischen wieder gut. Meine Freundin aber sieht seit dem Vorfall die Welt mit anderen Augen. Sie sagt: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Menschen so hilfsbereit sind.“Oder meine Beobachtung in Augsburger Straßencafés, wo ein älteres Männlein mit Gehwägelchen Kunststücke mit Bällen und Ringen aufzuführen versucht. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Das Jonglieren hat er früher perfekt beherrscht, es war ein Genuss ihm zuzusehen. Heute erschrickt man darüber, wie grausam das Alter zuschlagen kann. Der Mann gibt sich alle Mühe, doch es gelingt ihm nichts mehr.
Und was machen die Augsburger? Sie reichen ihm ihre Spende wie eh und je. Manche laufen ihm mit den Münzen sogar hinterher. Sie sind gerührt vom Auftritt des gebrechlichen Straßenkünstlers, der verzweifelt darum kämpft, als Jongleur an seine guten Tage anzuknüpfen. Bei allen Klagen über den angeblichen Verfall von Sitten und Anstand: Wenn man genau hinschaut, gibt es noch viel Menschlichkeit und Herzlichkeit zu entdecken. Es ist häufig nur eine Frage der Wahrnehmung.