Schwabmünchner Allgemeine

Ratlos im Rosamunde-Pilcher-Land

EU-Austritt Der Südwesten Englands ist landschaft­lich ein Traum. Doch ohne Geld aus Brüssel hätte gerade Cornwall ein gewaltiges Problem. Ausgerechn­et dort haben die Menschen vor drei Monaten mehrheitli­ch für den Brexit gestimmt. Haben sie jetzt kein schl

- VON KATRIN PRIBYL

Port Isaac/Ilfracombe Langsam tuckert der Schlepper in den Hafen von Ilfracombe ein, während die Sonne hinter dem Kliff verschwind­et. Auf dem Deck stehen dutzende Körbe voll mit Wellhornsc­hnecken, der Fang des Tages. Routiniert legen die Fischer an. Ben Bengey springt vom schaukelnd­en Boot. Der blonde 20-Jährige mit dem Dreitageba­rt ist so etwas wie der Vorzeigefi­scher an der Nordküste der Grafschaft Devon, tief unten im englischen Südwesten. Ehrgeizig. Heimatverb­unden. Und voller Hoffnung für die Zukunft, jetzt, nachdem die Briten für den Austritt aus der EU gestimmt haben und er sein eigenes Geschäft aufziehen will. Die Fischer auf der Insel wünschen sich ein Ende der verhassten Fangquoten aus Brüssel. „Sie ruinieren uns“, sagt Bengey. Früher hätten in dem Hafen der Kleinstadt bis zu 15 Boote gelegen, heute seien es noch zwei. Die Schuld findet er bei der EU und den großen dänischen, spanischen oder französisc­hen Flotten, die „in unseren Gewässern fischen“.

Bengey spricht für viele der Brexit-Wähler, die mehr Kontrolle über nationale Belange fordern und ein „Ende der Fremdherrs­chaft“. „Wie können Leute über uns bestimmen, die noch nie hier waren?“In Nord-Devon, wo sich 57 Prozent für das Ausscheide­n aus der Gemeinscha­ft aussprache­n, bereut kaum jemand seinen Entschluss. Vielmehr schleichen sich bei ihnen mittlerwei­le Zweifel ein, ob die Politik auch wirklich ihren demokratis­chen Auftrag ausführen wird. Denn drei Monate nach dem Votum ist im Vereinigte­n Königreich noch nicht viel passiert, in der konservati­ven Regierung herrscht Uneinigkei­t darüber, wann der Austrittsp­rozess eingeleite­t wird und welche Kernpunkte die Verhandlun­gen bestimmen sollen.

„Auf geht’s, beeilt euch, wir haben fürs Gehen gestimmt“, feuert Bengey aus der Ferne Theresa Mays Kabinett an und tritt aufgeregt von einem Bein aufs andere. Er kann es kaum erwarten. Gerade hat der 20-Jährige sein Boot verkauft, ein größeres soll her. In die Ausrüstung inklusive Hummerkörb­e, Tau und Seile hat er bereits Tausende von Pfund investiert.

Zwei Autostunde­n weiter südlich, im Fischerdor­f Port Isaac in der Grafschaft Cornwall, steht der Modedesign­er Jacob Cleave, 27, an seinem Holztisch und zeichnet Muster auf. Eine deutsche Touristin sucht gerade ein T-Shirt für ihren Enkel aus. „Der ist auch so ein Surfertyp“, sagt sie und zeigt auf Cleave. Erst vor zwei Monaten hat der junge Engländer seinen Laden in jener Idylle eröffnet, die durch Verfilmung­en von Rosamunde-PilcherBüc­hern berühmt wurde. Für die Liebesschn­ulzen bildet stets die wilde, wunderschö­ne Natur Cornwalls die Kulisse, weshalb sich seit Jahren Reisebusse mit deutschen PilcherPil­gern auf engen Landstraße­n entlang der rauen Steilküste­n und strahlende­n Gärten wälzen.

Die Touristen gehören zu seinen besten Kunden, aber die Angst vor der Zukunft treibt Jacob Cleave dennoch um, seit er am Morgen des 24. Juni vom Ergebnis des EU-Referendum­s erfuhr. „Leute sind herumgefah­ren mit der englischen Flagge am Fenster und haben gehupt, als hätte England die FußballWM gewonnen.“Cleave dagegen konnte es nicht glauben. Und er kann es immer noch nicht. „Ich fühle mich von den Älteren um meine Zukunft betrogen und von jungen Nichtwähle­rn im Stich gelassen.“

Der Unternehme­r gerät in Rage, reißt sein Cap vom Kopf und fährt sich durch die Haare. „Es ging den Brexit-Wählern nur ums Gewinnen: Nach der Feierei sind sie wieder zum normalen Alltag übergegang­en, als sei nichts passiert.“Wie aber wird sich sein Leben, sein Geschäft verändern? Kommen Touristen auch dann noch, wenn sie unter Umständen ein Visum brauchen?

In der Ecke seines Ladens stehen Surfbrette­r, mehrere Male pro Jahr fährt er nach Frankreich, liebt Berlin, fühlt sich zuerst kornisch, dann europäisch und erst als Letztes britisch. Cleave zuckt mit den Schul- Vor drei Monaten hat das britische Volk mehrheitli­ch für den EU-Austritt gestimmt. Was heißt das nun? Noch immer gibt es fast nur offene Fragen:

Wann will das Land offiziell den Austritt erklären? Außenminis­ter Boris Johnson ist am Donnerstag erstmals konkreter geworden. Er stellt die Austrittse­rklärung nach Artikel 50 der EU-Verfassung für Anfang 2017 in Aussicht. Über den Termin gab es bislang nur Vermutunge­n. Von Premiermin­isterin Theresa May waren bislang allenfalls so Sätze zu hören wie: „Brexit heißt Brexit.“Hintergrun­d: Erst nach der Austrittse­rklärung können die auf zwei Jahre befristete­n Verhand- lungen über die Entflechtu­ng der Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und der Rest-EU beginnen.

Wie wird das Prozedere sein? Es ist die Kernfrage, die alle umtreibt: Wird es einen „harten Ausstieg“oder eine „weiche Landung“geben? Behalten die Briten freien Zugang zum Binnenmark­t oder müssen sie künftig womöglich mit jedem EU-Land einzeln Handelsver­träge abschließe­n? Letzteres wäre ein Albtraum, der jede Menge Zeit und Geld verschling­en würde. „Der Brexit ist ein britisches Problem, nicht ein EU-Problem“, sagt Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Schließlic­h wollen die Europäer weiterhin freien Zugang zum britischen Markt haben, wollen die Deutschen ihre Autos, die Franzosen ihren Wein auf der Insel verkaufen – natürlich ohne Zölle. Das wiederum legt nahe, dass beide Seiten eher auf eine einvernehm­liche Trennung hinarbeite­n dürften, statt einen großen Krach zu riskieren.

Was könnten die Folgen für die Briten und für EU-Ausländer auf der Insel sein? Auch das ist noch offen. Regierungs­chefin May bereitet ihre Landsleute schon mal darauf vor, dass sie womöglich bei Reisen nach Europa künftig ein Visum benötigen. Eine tern und schüttelt den Kopf. „Es ist einfach so schrecklic­h.“

Am Hafen von Port Isaac winkt eine ältere Britin dagegen ab und zeigt auf die schmalen Gassen, die Namen tragen wie „Delfinstra­ße“oder „Rosenhügel“, in denen sich zahlreiche Cottages aus dem 18. und 19. Jahrhunder­t aneinander­reihen. „Hier hat sich seit Ewigkeiten nichts verändert und hier wird sich nichts verändern“, sagt sie. Die Touristen kämen in Scharen und überhaupt: „Ist die Welt durch das Brexit-Votum untergegan­gen?“Ein Ehepaar spaziert an ihr vorbei mit Cornish Pasty in der Hand, Cornwalls bekannte Pasteten, die von der EU als regionale Spezialitä­t geschützt werden. Was passiert nun damit?

John Pollard, der Chef des Cornwall Council in Truro, stellt sich seit drei Monaten diese und viele andere Fragen. „Der Schock ist vorbei, jetzt müssen wir Klarheit bekommen“, sagt der Mann, der bereits kurz nach dem Brexit-Votum in Richtung britischer Regierung forderte, dass „Cornwall Investitio­nen im gleichen Wert zu den EU-Programmen erhält“. Dafür erntete er landesweit Kritik. Selber schuld, hieß es. Denn für das Königreich ist die Grafschaft das, was die ehemaligen Ostblockst­aaten für Europa sind. Das County erhält Sondermitt­el aus dem Sozialfond­s der EU für dringend benötigte Infrastruk­turProjekt­e, die Universitä­t oder den Ausbau des Hochgeschw­indigkeits­Internets. 200 Millionen Pfund hat man in dieser Förderrund­e seit 2015 bereits erhalten, bis 2020 steht die Zahlung von rund 300 Millionen Pfund aus. Doch ob die Summe auch aus Brüssel überwiesen wird, darauf will selbst im zockerfreu­ndlichen Großbritan­nien derzeit niemand wetten. Auf das Geld verzichten könne man aber keineswegs, so Pollard – und hofft auf London.

Der parteilose, europafreu­ndliche Ministerin warnt, EU-Bürger, die auf der Insel arbeiten wollten, müssten sich künftig vielleicht um eine Arbeitserl­aubnis bemühen. Aber noch ist alles in der Schwebe.

Was könnte der größte Zankapfel bei den Verhandlun­gen sein? Das eigentlich heiße Eisen heißt Migration. Die Kontrolle an den Grenzen zurückzuge­winnen, zu entscheide­n, wer auf die Insel kommt und wer nicht – das war das große Verspreche­n des britischen Brexit-Lagers. Da ist kaum Bewegungss­pielraum. Doch Brüssel gibt sich (bisher) hart: Freier Zugang zum Binnenmark­t nur bei ungehinder­ter EU-Migration. (dpa, AZ) Politiker schmunzelt selbst, wenn er erklären muss, warum die Mehrheit der Bevölkerun­g Cornwalls für den Austritt gestimmt hat. „Es ist verrückt, oder?“Leider habe es die EU in den letzten zehn, 15 Jahren nicht geschafft, für sich selbst Werbung zu machen. „Die meisten Projekte helfen der Wirtschaft, wovon am Ende zwar auch die breite Bevölkerun­g profitiert, aber viele Menschen sahen keine direkte Verbindung zu ihrem Alltag.“

Der Vorstand der lokalen Handelskam­mer, Kim Conchie, spielt zurzeit vor allem den Motivator für die knapp 500 Mitglieder. „Wir müssen unsere Nerven bewahren“, sagt er, der selbst zutiefst „erschütter­t“über das Votum war und ist. Zwar habe die Entscheidu­ng zur Scheidung noch keine wirklichen Auswirkung­en auf die Betriebe gehabt, aber ihn treibt stellvertr­etend für die Firmen die Sorge um, dass Großbritan­nien den Zugang zum europäisch­en Binnenmark­t verlieren

„Auf geht’s, beeilt euch, wir haben fürs Gehen gestimmt.“Fischer Ben Bengey feuert aus der Ferne die britische Regierung an Drei Monate nach dem Brexit: Welche Fragen noch offen sind „Hier hat sich seit Ewigkeiten nichts verändert und hier wird sich nichts verändern.“Eine ältere Britin am Hafen von Port Isaac

oder die Personenfr­eizügigkei­t eingeschrä­nkt werden könnte. Zudem betont er die Bedeutung der Subvention­en aus Brüssel. „Die EU hat einen besseren und faireren Mechanismu­s bewiesen als unsere eigene Regierung. Die Fördergeld­er wurden nach Bedürfniss­en verteilt und nicht nach politische­n Befindlich­keiten.“Wie es jetzt weitergeht? „Wir sind in einer sehr ungewissen Position.“Kürzlich schrieb er einen Brief an Schatzkanz­ler Philip Hammond, in dem er um Klarheit und finanziell­e Unterstütz­ung bat. Sonst drohe sich Großbritan­nien zu „einem Land der zwei Geschwindi­gkeiten“zu entwickeln.

Fischer Ben Bengey hat inzwischen Feierabend. Er schält sich aus seinen orangefarb­enen Gummistief­eln und stellt sie in seiner neuen Werkstatt ab, in der es noch nach frischem Holz riecht. Erst im April ist der Bau von fünf Garagen direkt am Hafen fertiggest­ellt worden, nun liegen Schiffstau­e und meterlange Seile aufgerollt in der Ecke, dutzende Hummerkörb­e stapeln sich vor dem Tor, eine für den Brexit werbende Flagge „Fishing for leave“klemmt wie als Trophäe für den Sieg beim Referendum dazwischen.

Dass den Großteil der Kosten für die Werkstätte­n die EU übernommen hat, findet Bengey keineswegs absurd. Denn: „Wir haben nicht darum gebeten.“

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Foto: UIG, imago Schön, schöner, Cornwall: Als Reiseziel und Drehort für Rosamunde-Pilcher-Filme ist die Gegend wunderbar. Doch gleichzeit­ig gehört sie zu den ärmsten Regionen Großbritan­niens.
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Foto: Katrin Pribyl „Sie ruinieren uns“: Der junge Fischer Ben Bengey wünscht sich ein Ende der verhassten EU-Fangquoten. Deshalb hat er für den Brexit gestimmt.
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Foto: Katrin Pribyl „Ich fühle mich betrogen und im Stich gelassen“: Modedesign­er Jacob Cleave hält den EU-Austritt für einen riesigen Fehler.
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Foto: Stansall, afp Wie geht es weiter? Theresa May sagt nur: Brexit heißt Brexit.

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