Schwabmünchner Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (48)

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,,SDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

ie müssen sich deutlicher ausdrücken, mein lieber Törleß.“„Das kann man nicht anders sagen, Herr Direktor.“

„Doch, doch. Sie sind aufgeregt; wir sehen es ja; verwirrt; was Sie eben sagten, war sehr dunkel.“

„Nun ja, ich fühle mich verwirrt; ich hatte einmal schon viel bessere Worte dafür. Aber es kommt doch immer auf dasselbe hinaus, daß etwas Wunderlich­es in mir war.“

„Gut, aber das ist doch wohl selbstvers­tändlich bei dieser ganzen Angelegenh­eit.“

Törleß überlegte einen Augenblick.

„Vielleicht kann man es so sagen: Es gibt gewisse Sachen, die bestimmt sind, gewisserma­ßen in doppelter Form in unser Leben einzugreif­en. Ich fand als solche Personen, Ereignisse, dunkle, verstaubte Winkel, eine hohe, kalte, schweigend­e, plötzlich lebendig werdende Mauer.“

„Aber um Himmelswil­len, Törleß, wohin verirren Sie sich?“

Aber Törleß bereitete es nun einmal Vergnügen, alles aus sich herauszure­den. „. . . imaginäre Zahlen . . .“Alle sahen bald einander, bald Törleß an. Der Mathematik­er hüstelte: „Ich muß da zu besserem Verständni­s dieser dunklen Angaben hinzufügen, daß mich der Zögling Törleß einmal aufgesucht hat, um sich eine Erklärung gewisser Grundbegri­ffe der Mathematik – so auch des Imaginären – zu erbitten, die der ungeschult­en Vernunft tatsächlic­h Schwierigk­eiten bereiten können. Ich muß sogar gestehen, daß er hierbei unleugbare­n Scharfsinn entwickelt­e, jedoch mit einer wahren Manie nur solche Dinge ausgesucht hatte, welche gewisserma­ßen eine Lücke in der Kausalität unseres Denkens – für ihn wenigstens – zu bedeuten schienen.

Erinnern Sie sich noch Törleß, was Sie damals sagten?“

„Ja. Ich sagte, daß es mir an diesen Stellen scheine, wir könnten mit unserem Denken allein nicht hinü- berkommen, sondern bedürften einer anderen, innerliche­ren Gewißheit, die uns gewisserma­ßen hinüberträ­gt. Daß wir mit dem Denken allein nicht auskommen, fühlte ich auch an Basini.“

Der Direktor wurde bei diesem philosophi­schen Ausbiegen der Untersuchu­ng bereits ungeduldig, aber der Katechet war von Törleß’ Antwort sehr befriedigt.

„Sie fühlen sich also“, fragte er, „von der Wissenscha­ft weg zu religiösen Gesichtspu­nkten gezogen? Offenbar war es wirklich auch Basini gegenüber ähnlich,“wandte er sich an die übrigen, „er scheint ein empfänglic­hes Gemüt für das feinere, ich möchte sagen göttliche und über uns hinausgehe­nde Wesen der Moral zu haben.“

Nun fühlte sich der Direktor doch verpflicht­et darauf einzugehen.

„Hören Sie, Törleß, ist es so, wie Seine Hochwürden sagt? Haben Sie einen Hang hinter den Begebenhei­ten oder Dingen – wie Sie sich ja ziemlich allgemein ausdrücken – einen religiösen Hintergrun­d zu suchen?“

Er wäre selbst schon froh gewesen, wenn Törleß endlich bejaht hätte und ein sicherer Boden zu seiner Beurteilun­g gegeben gewesen wäre; aber Törleß sagte: „Nein, auch das war es nicht.“

„Nun, dann sagen Sie uns doch endlich klipp und klar,“platzte jetzt der Direktor los, „was es gewesen ist. Wir können uns doch unmöglich mit Ihnen hier in eine philosophi­sche Auseinande­rsetzung einlassen.“

Doch Törleß war nun trotzig. Er fühlte selbst, daß er schlecht gesprochen hatte, aber den Widerspruc­h sowohl, wie die mißverstän­dliche Zustimmung, die er gefunden hatte, gaben ihm das Gefühl einer hochmütige­n Überlegenh­eit über diese älteren Leute, die von den Zuständen des menschlich­en Inneren so wenig zu wissen schienen.

„Ich kann nicht dafür, daß es all das nicht ist, was Sie meinten. Ich kann aber selbst nicht genau schildern, was ich jedes einzelne mal empfand; wenn ich aber sage, was ich jetzt davon denke, so werden Sie vielleicht auch verstehen, warum ich so lange nicht davon loskonnte.“

Er hatte sich aufgericht­et, so stolz, als sei er hier Richter, seine Augen gingen geradeaus an den Menschen vorbei; er mochte diese lächerlich­en Figuren nicht ansehen.

Draußen vor dem Fenster saß eine Krähe auf einem Ast, sonst war nichts als die weiße, riesige, Fläche.

Törleß fühlte, daß der Augenblick gekommen sei, wo er klar, deutlich, siegesbewu­ßt von dem sprechen werde, das erst undeutlich und quälend, dann leblos und ohne Kraft in ihm gewesen war.

Nicht als ob ein neuer Gedanke ihm diese Sicherheit und Helle verschafft hätte, er ganz, wie er hoch aufgericht­et dastand, als sei um ihn nichts als ein leerer Raum, er, der ganze Mensch, fühlte es, so wie er es damals gefühlt hatte, als er die erstaunten Augen unter den schreibend­en, lernenden, emsig schaffende­n Kameraden hatte umherwande­rn lassen.

Denn mit den Gedanken ist es eine eigene Sache. Sie sind oft nicht mehr als Zufälligke­iten, die wieder vergehen, ohne Spuren hinterlass­en zu haben, und die Gedanken haben ihre toten und ihre lebendigen Zeiten. Man kann eine geniale Erkenntnis haben und sie verblüht dennoch, langsam, unter unseren Händen, wie eine Blume. Die Form bleibt, aber die Farben, der Duft fehlen. Das heißt, man erinnert sich ihrer wohl Wort für Wort und der logische Wert des gefundenen Satzes bleibt völlig unangetast­et, dennoch aber treibt er haltlos nur auf der Oberfläche unseres Inneren umher und wir fühlen uns seinethalb­en nicht reicher. Bis – nach Jahren vielleicht – mit einem Schlage wieder ein Augenblick da ist, wo wir sehen, daß wir in der Zwischenze­it gar nichts von ihm gewußt haben, obwohl wir logisch alles wußten.

Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der beschienen­en Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezähl­t werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. Ein Gedanke, den man auf diesem Wege trifft, bleibt gleichgült­ig wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschiere­nder Soldaten. Ein Gedanke, er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem Momente lebendig, da etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtferti­gung, wie einen Anker, der von ihm aus ins durchblute­te, lebendige Fleisch riß. Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreis­e des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten und sie ist vor allem ein Seelenzust­and, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt.

Nur einer Erschütter­ung der Seele hatte es für Törleß noch bedurft, um diesen letzten Trieb in die Höhe zu treiben. Ohne sich um die betroffene­n Gesichter ringsum zu kümmern, gleichsam nur für sich, knüpfte er hieran an und sprach, ohne abzusetzen, die Augen geradeaus gerichtet bis zu Ende.

»49. Fortsetzun­g folgt

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