Schwabmünchner Allgemeine

Die digitale Spielzeugk­iste

Betreuung In vielen Münchner Kitas dürfen Kinder ab drei Jahren schon mit Tablets spielen. Ruhiggeste­llt werden sollen sie so aber nicht. Das Konzept hat auch kritische Eltern überzeugt

- VON ALEXANDER SING

München Zu acht sitzen die Kinder an dem niedrigen Holztisch, die Köpfe zusammenge­steckt, als würden sie ein Geheimnis ausbrüten. Das ein oder andere Kind kniet auf seinem Stuhl oder sitzt sogar auf dem Tisch, um besser an das Ding heranzukom­men, das da in der Mitte liegt: ein Tablet. Der vierjährig­e Maxi übt gerade Zahlen. In einer App zählt er Krabben. Die anderen wollen dem Jüngsten in der Runde helfen. Doch Maxi meistert die Aufgabe souverän. Als Nächstes ist eine App dran, die verschiede­ne Bilder vergrößert zeigt. „Ekelhaft!“, ruft die zehnjährig­e Rym, als eine dicke, schwarze Fliege den Bildschirm füllt. „Sieht cool aus“, findet dagegen der achtjährig­e Julian. Ironischer­weise steht im Regal hinter den Kindern ein Mikroskop.

Solche Szenen gehören im Haus für Kinder an der Robert-HegerStraß­e in München zum Alltag. „Alle Kinder wollen damit spielen, es ist wie ein Magnet“, sagt Anneliese Leichtle, die Leiterin der Kita im Stadtteil Bogenhause­n. Sie hat sich für das Projekt „Multimedia­landschaft­en für Kinder“beworben, sie Medienpäda­gogik in allen Bereichen wichtig findet. „Die Zeit soll hier nicht stehen bleiben, digitale Medien gehören einfach dazu.“

Seit zwei Jahren stattet die Landeshaup­tstadt ihre Kindergärt­en und Horte projektwei­se für einige Wochen mit Tablets aus. Rund ein Viertel der 430 Münchner Kitas hat schon mitgemacht, jede fünfte Einrichtun­g besitzt schon eigene Geräte. Zweimal am Tag dürfen die Kleinen in der Regel an das Tablet, eine eigens dafür geschulte Erzieherin ist immer dabei. Sie sorgt dafür, dass jeder drankommt und behält auch die Sanduhr im Auge. Wenn sie nach 15 Minuten abläuft, ist Schluss.

Die Geräte kennen die Kinder alle schon von zu Hause. Doch den verantwort­ungsvollen Umgang damit müssen viele noch lernen. „Es ist kein Mittel, um die Kinder ruhigzuste­llen. Das ist der größte Fehler, den man machen kann“, sagt Anneliese Leichtle. Klare Regeln seien in der Kita wie auch daheim bei den Eltern nötig. Die Apps werden altersgere­cht ausgewählt, Zugang zum Internet haben die Tablets nicht. „Die Kinder spielen damit oft gemeinsam, so müssen sie kommunizie­ren. Auch Konzentrat­ion und Kreativitä­t werden gefördert“, erklärt der Pädagoge Joe Hensel. Er betreut das vom Verein „Studio im Netz“entwickelt­e Projekt im Auftrag der Stadt München.

Dass viele das Thema kritisch sehen, ist ihm bewusst. „Man kann vieles daran negativ sehen. Wir versuchen aber bewusst, das Positive herauszuke­hren.“So sehe er es nicht kritisch, wenn die Kinder ihre Umgebung ausblenden und komplett im Spiel versinken. Das sei normal, da die Apps die Sinne auf vielen Ebenen ansprächen und so die ganze Aufmerksam­keit des Kindes forderten. Dadurch werde das Gehirn trainiert. Die Arbeit mit den Tablets soll auch Problemlös­efähigkeit und Sozialkomp­etenz fördern. Die wissenscha­ftliche Basis, das gibt Hensel zu, fehlt aber noch.

Der Umgang mit digitalen Medien ist mittlerwei­le auch in der Ausbildung von Erziehern angekommen. An der Fachakadem­ie für Sozialpäda­gogik Maria Stern in Augsburg lernen über 400 angehenwei­l de Erzieher den praxisorie­ntierten Umgang im Betreuungs­alltag. Schulleite­r Siegfried Fuchs mahnt aber, im Einsatz genau hinzuschau­en. „Es dürfen keine anderen Dinge darunter leiden, etwa der Kontakt zur Umwelt oder die Bewegung. Die Kinder müssen sich auch noch in der realen Welt zurechtfin­den.“Dennoch findet Fuchs es gut, dass die Kinder den Umgang mit digitalen Medien lernen. Das beste Alter für den ersten Kontakt mit der digitalen Welt ist für den Augsburger Pädagogen drei Jahre. Jüngere Kinder kommen auch in den Münchner Kitas nicht mit Tablets in Berührung.

Das Konzept taugt offenbar als Vorbild für andere Länder. Pädagogen aus Japan informiere­n sich an diesem Tag in der Kita an der Robert-Heger-Straße über Organisati­on und Arbeitswei­se in deutschen Kitas. Die Arbeit mit dem Tablet hat es ihnen angetan. In Japan würden die Kinder nur zu Hause damit spielen, erzählen die Gäste. Dann zücken sie ihre Smartphone­s und Digitalkam­eras und knipsen drauflos. Die Kinder schauen nicht auf, als 20 Japaner sie vor die Linse nehmen. Sie sind vertieft in ihre digitale Spielzeugk­iste. »Kommentar

Apps fordern die ganze Aufmerksam­keit der Kinder

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