Die Frage der Gerechtigkeit
Debatte Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander? In Deutschland? In der Welt? Um die vermeintlich wachsende Ungleichheit wird heftig gestritten. Auch um den sozialen Frieden und um die politische Macht
Die Frage reicht ins Herz unserer Gesellschaft und aller Politik. Und sie spielt eine wichtige Rolle in der Frage der globalen Gestaltung der Zukunft. Es geht einerseits um Wohlstand und das dazu nötige Wachstum – andererseits um gerechte Verteilung und Chancengleichheit. Wie viel Ungleichheit nützt? Und ab wann schadet sie? An den Antworten lassen sich ganze Systeme unterscheiden. So fußt der Kapitalismus im Kern darauf, dass es durch Leistung und Erfolg Ungleichheit geben muss, weil das zu Dynamik führt. Ihr Ausmaß wird in einer sozialen Marktwirtschaft durch steuerliche Umverteilung begrenzt, sodass trotzdem möglichst viele am Wohlstand teilhaben. Auf der anderen Seite steht der Sozialismus, der die Gleichheit zum Prinzip und das Wachstum durch kontrollierte Planwirtschaft gewährleisten will.
Der Kampf der Systeme scheint seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschieden. Wie sehr das Problem der Ungleichheit aber weit darüber hinaus die politischen Diskussionen prägt, zeigt sich bis hinein in die aktuellen Krisen. Sind die Flüchtlingsbewegungen nicht auch eine Folge der Spaltung zwischen Arm und Reich in der Welt? Ist das Erstarken populistischer Strömungen von links wie rechts nicht auch eine Folge der Sorge vieler Menschen, am Wachstum nicht mehr teilzuhaben und an Wohlstand einzubüßen? Bedienen sich nicht beide extremen Lager des Arguments, dass die Finanz- und Polit-Eliten in eigenen, verfilzten Sphären regieren – abgekapselt von den Nöten der normalen Menschen? Und wird bezahlbarer Wohnraum nicht immer seltener, weil er durch ImmobilienInvestoren teurer wird? Und sinken die Reallöhne der Arbeiter nicht seit Jahren?
Der Befund einer wachsenden Ungleichheit jedenfalls kann wirken wie Zunder. Für die Forderung nach mehr planwirtschaftlicher Kontrolle einerseits, in nationalistischer Ausprägung andererseits. Wenn es ihn denn gibt, diesen Befund. Und mit welchem Ausmaß. In gesunder Dynamik oder in gefährlicher Dramatik? Ein Grenzkonflikt.
So ist zu verstehen, warum bereits vor zwei Jahren ein französischer Wirtschaftswissenschaftler mit einem Schlag zum gefeierten Star wurde. Und ebenso zum leidenschaftlich bekämpften Gegner. Und dieser Konflikt bis heute anhält. Thomas Piketty hatte mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“die Auseinandersetzung neu befeuert. Sein Befund lautete: Die ungleiche Verteilung des Wohlstandes auf der Welt und innerhalb von Staaten sei in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Sie bewege sich auf ein kritisches Maß zu, das zuletzt zu Beginn des Ersten Weltkriegs erreicht war. Weil die Rendite auf bereits vorhandenes Kapital dauerhaft über dem Wirtschaftswachstum liegt. Das heißt: Der Reiche wird immer schneller reicher als der Nicht-Reiche jemals durch Arbeit vorankommen kann. Und die Einkommen in der Spitze steigen durch den Finanzkapitalismus in einer Rasanz, dass das soziale Gefälle immer größer wird.
Wachsende Ungleichheit also. Das Buch wurde zum internationalen Bestseller, der Autor zur Galionsfigur der Kapitalismuskritik. Er diente vielen Politikern als Zeuge für die Forderung nach höheren Spitzensteuersätzen. Und Piketty legte nach: Er sah in der künftig voraussichtlich weiter wachsenden Schere unter anderem eine Gefahr für politische Stabilität und einen Auslöser für Terrorismus. Bis ihm sein Befund um die Ohren flog: Nach zahlreichen Korrekturen durch andere Forscher, nach wütenden Einwänden von Kritikern gestand Piketty schließlich ein, dass seine umfangreichen Datenmaterialen nur für den Befund bis zum Ersten Weltkrieg verlässlich seien – nicht aber für die Aussagen über Gegenwart und Zukunft des Kapitalismus. Kritiker wie der konservative Harvard-Ökonom Greg Mankiw konnten sich in ihrem Urteil bestätigt sehen, dass es sich eigentlich nur um eine politische Meinung handelte für breitenwirksamere Verteilung des Wohlstands. Der 45-jährige Franzose selbst fühlte sich missverstanden.
Aber wenn sein Befund, dass sich die Ungleichheit durch das Missverhältnis zwischen Vermögen und Wachstum im 21. Jahrhundert weiter verstärkt, richtig wäre – was hieße das dann abseits der These für die Schere zwischen Arm und Reich? Geht sie nun weiter auf oder nicht? Haben wir ein Problem oder nicht? Das zu klären ist nun der Lehrer von Thomas Piketty angetreten, der unwarum gleich erfahrenere und renommiertere britische Wirtschaftswissenschaftler Anthony B. Atkinson. Er berät unter anderem die britische und die französische Regierung sowie die EU; er hat ein nach ihm selbst benanntes, weithin akzeptiertes Standardmaß zur Messung der Ungleichheit entwickelt – und nun ein Buch geschrieben: „Ungleichheit“ (Klett-Cotta, 475 Seiten, 26,95 Euro). Es wird aller Voraussicht nach für weniger Aufregung, aber mehr Klarheit sorgen.
Atkinsons Befund lautet: Weltweit ist die ungleiche Verteilung von Wohlstand in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Es gibt mehr Teilhabe am Wachstum in mehr Staaten. Weiter geöffnet hat sich die Schere allerdings innerhalb der westlichen Wohlstandsgesellschaften.
Seit 1980 nämlich stiegen die Unterschiede speziell bei den Einkommen in einer Rasanz an, die nicht mehr im selben Maße wie zuvor durch den Wohlfahrtsstaat abgefangen werden kann. Dies betrifft nach dem 72-jährigen Ökonomen vor allem die USA und Großbritannien, zeichne sich aber auch auch in Deutschland und anderen Ländern ab. Interessant ist, dass die Ungleichheit der Einkommen pro Haushalt weniger gewachsen sei – weil in vielen Familien eben immer öfter beide Ehepartner arbeiteten – wenn auch teils bei nicht selten geringen Verdiensten. Was wiederum auf die Schere der Einzeleinkommen zurückschlägt: Wenn immer mehr Menschen für weniger Geld arbeiten, vergrößert sich der durchschnittliche Abstand zur Spitze weiter. Aber ist das auch gleich schon dramatisch?
Nein. Atkinson (der Piketty übrigens an zwei Stellen erwähnt, um ihn regulierend einzuordnen) taugt nicht zur Hysterie und liefert auch keine Vorlage für grundlegenden Kapitalismusverdruss. Aber Warnschilder stellt er dennoch unübersehbar auf, vor allem was die Entwicklung in den unteren und mittleren Schichten der Industrienationen angeht. Und er betont die Notwendigkeit einer politischen Gestaltung der Zukunft – gegen die Gefahren entfesselter Märkte und für nationale und internationale Regulierungen. Gegen die Beseitigung von Handels-„Barrieren“durch Abkommen wie TTIP, für höhere Spitzensteuersätze (65 Prozent). Dazu für mehr politische Marktmacht, und mehr Bildung und Ausbildung. Für ein „Mindesterbe“, das jeder Bürger bei Erreichen der Volljährigkeit erhält, und für eine „Minimalsteuer“, die jedes Unternehmen zu zahlen hat…
Und wenn das alles die wirtschaftliche Dynamik bremsen würde und der zu verteilende Wachstumskuchen also kleiner geriete?
Dann sollten wir das gern in Kauf nehmen – solange dadurch mehr Gerechtigkeit entstehe. Atkinson schließt: „Seit 1980 erleben wir, das lässt sich nicht bestreiten, eine ‚Ungleichheitswende‘, und das 21. Jahrhundert führt besondere Herausforderungen mit sich, wenn wir eine überalternde Bevölkerung, den Klimawandel und globale Ungleichgewichte in den Blick nehmen. Die Lösung ebendieser Probleme haben wir selbst in der Hand. Wenn wir bereit sind, den größeren Wohlstand, über den wir heute verfügen, zu nutzen, um diese Probleme anzugehen, und wenn wir akzeptieren, dass diese Ressourcen gleicher verteilt werden müssen, dann gibt es in der Tat genügen Gründe für Optimismus.“
Der Lehrer Atkinson korrigiert seinen Schüler Thomas Piketty Es gibt genügend Gründe für einen Optimismus