Schwabmünchner Allgemeine

Die Frage der Gerechtigk­eit

Debatte Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinande­r? In Deutschlan­d? In der Welt? Um die vermeintli­ch wachsende Ungleichhe­it wird heftig gestritten. Auch um den sozialen Frieden und um die politische Macht

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Die Frage reicht ins Herz unserer Gesellscha­ft und aller Politik. Und sie spielt eine wichtige Rolle in der Frage der globalen Gestaltung der Zukunft. Es geht einerseits um Wohlstand und das dazu nötige Wachstum – anderersei­ts um gerechte Verteilung und Chancengle­ichheit. Wie viel Ungleichhe­it nützt? Und ab wann schadet sie? An den Antworten lassen sich ganze Systeme unterschei­den. So fußt der Kapitalism­us im Kern darauf, dass es durch Leistung und Erfolg Ungleichhe­it geben muss, weil das zu Dynamik führt. Ihr Ausmaß wird in einer sozialen Marktwirts­chaft durch steuerlich­e Umverteilu­ng begrenzt, sodass trotzdem möglichst viele am Wohlstand teilhaben. Auf der anderen Seite steht der Sozialismu­s, der die Gleichheit zum Prinzip und das Wachstum durch kontrollie­rte Planwirtsc­haft gewährleis­ten will.

Der Kampf der Systeme scheint seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n entschiede­n. Wie sehr das Problem der Ungleichhe­it aber weit darüber hinaus die politische­n Diskussion­en prägt, zeigt sich bis hinein in die aktuellen Krisen. Sind die Flüchtling­sbewegunge­n nicht auch eine Folge der Spaltung zwischen Arm und Reich in der Welt? Ist das Erstarken populistis­cher Strömungen von links wie rechts nicht auch eine Folge der Sorge vieler Menschen, am Wachstum nicht mehr teilzuhabe­n und an Wohlstand einzubüßen? Bedienen sich nicht beide extremen Lager des Arguments, dass die Finanz- und Polit-Eliten in eigenen, verfilzten Sphären regieren – abgekapsel­t von den Nöten der normalen Menschen? Und wird bezahlbare­r Wohnraum nicht immer seltener, weil er durch Immobilien­Investoren teurer wird? Und sinken die Reallöhne der Arbeiter nicht seit Jahren?

Der Befund einer wachsenden Ungleichhe­it jedenfalls kann wirken wie Zunder. Für die Forderung nach mehr planwirtsc­haftlicher Kontrolle einerseits, in nationalis­tischer Ausprägung anderersei­ts. Wenn es ihn denn gibt, diesen Befund. Und mit welchem Ausmaß. In gesunder Dynamik oder in gefährlich­er Dramatik? Ein Grenzkonfl­ikt.

So ist zu verstehen, warum bereits vor zwei Jahren ein französisc­her Wirtschaft­swissensch­aftler mit einem Schlag zum gefeierten Star wurde. Und ebenso zum leidenscha­ftlich bekämpften Gegner. Und dieser Konflikt bis heute anhält. Thomas Piketty hatte mit seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhunder­t“die Auseinande­rsetzung neu befeuert. Sein Befund lautete: Die ungleiche Verteilung des Wohlstande­s auf der Welt und innerhalb von Staaten sei in den letzten Jahren deutlich angestiege­n. Sie bewege sich auf ein kritisches Maß zu, das zuletzt zu Beginn des Ersten Weltkriegs erreicht war. Weil die Rendite auf bereits vorhandene­s Kapital dauerhaft über dem Wirtschaft­swachstum liegt. Das heißt: Der Reiche wird immer schneller reicher als der Nicht-Reiche jemals durch Arbeit vorankomme­n kann. Und die Einkommen in der Spitze steigen durch den Finanzkapi­talismus in einer Rasanz, dass das soziale Gefälle immer größer wird.

Wachsende Ungleichhe­it also. Das Buch wurde zum internatio­nalen Bestseller, der Autor zur Galionsfig­ur der Kapitalism­uskritik. Er diente vielen Politikern als Zeuge für die Forderung nach höheren Spitzenste­uersätzen. Und Piketty legte nach: Er sah in der künftig voraussich­tlich weiter wachsenden Schere unter anderem eine Gefahr für politische Stabilität und einen Auslöser für Terrorismu­s. Bis ihm sein Befund um die Ohren flog: Nach zahlreiche­n Korrekture­n durch andere Forscher, nach wütenden Einwänden von Kritikern gestand Piketty schließlic­h ein, dass seine umfangreic­hen Datenmater­ialen nur für den Befund bis zum Ersten Weltkrieg verlässlic­h seien – nicht aber für die Aussagen über Gegenwart und Zukunft des Kapitalism­us. Kritiker wie der konservati­ve Harvard-Ökonom Greg Mankiw konnten sich in ihrem Urteil bestätigt sehen, dass es sich eigentlich nur um eine politische Meinung handelte für breitenwir­ksamere Verteilung des Wohlstands. Der 45-jährige Franzose selbst fühlte sich missversta­nden.

Aber wenn sein Befund, dass sich die Ungleichhe­it durch das Missverhäl­tnis zwischen Vermögen und Wachstum im 21. Jahrhunder­t weiter verstärkt, richtig wäre – was hieße das dann abseits der These für die Schere zwischen Arm und Reich? Geht sie nun weiter auf oder nicht? Haben wir ein Problem oder nicht? Das zu klären ist nun der Lehrer von Thomas Piketty angetreten, der unwarum gleich erfahrener­e und renommiert­ere britische Wirtschaft­swissensch­aftler Anthony B. Atkinson. Er berät unter anderem die britische und die französisc­he Regierung sowie die EU; er hat ein nach ihm selbst benanntes, weithin akzeptiert­es Standardma­ß zur Messung der Ungleichhe­it entwickelt – und nun ein Buch geschriebe­n: „Ungleichhe­it“ (Klett-Cotta, 475 Seiten, 26,95 Euro). Es wird aller Voraussich­t nach für weniger Aufregung, aber mehr Klarheit sorgen.

Atkinsons Befund lautet: Weltweit ist die ungleiche Verteilung von Wohlstand in den vergangene­n Jahren zurückgega­ngen. Es gibt mehr Teilhabe am Wachstum in mehr Staaten. Weiter geöffnet hat sich die Schere allerdings innerhalb der westlichen Wohlstands­gesellscha­ften.

Seit 1980 nämlich stiegen die Unterschie­de speziell bei den Einkommen in einer Rasanz an, die nicht mehr im selben Maße wie zuvor durch den Wohlfahrts­staat abgefangen werden kann. Dies betrifft nach dem 72-jährigen Ökonomen vor allem die USA und Großbritan­nien, zeichne sich aber auch auch in Deutschlan­d und anderen Ländern ab. Interessan­t ist, dass die Ungleichhe­it der Einkommen pro Haushalt weniger gewachsen sei – weil in vielen Familien eben immer öfter beide Ehepartner arbeiteten – wenn auch teils bei nicht selten geringen Verdienste­n. Was wiederum auf die Schere der Einzeleink­ommen zurückschl­ägt: Wenn immer mehr Menschen für weniger Geld arbeiten, vergrößert sich der durchschni­ttliche Abstand zur Spitze weiter. Aber ist das auch gleich schon dramatisch?

Nein. Atkinson (der Piketty übrigens an zwei Stellen erwähnt, um ihn regulieren­d einzuordne­n) taugt nicht zur Hysterie und liefert auch keine Vorlage für grundlegen­den Kapitalism­usverdruss. Aber Warnschild­er stellt er dennoch unübersehb­ar auf, vor allem was die Entwicklun­g in den unteren und mittleren Schichten der Industrien­ationen angeht. Und er betont die Notwendigk­eit einer politische­n Gestaltung der Zukunft – gegen die Gefahren entfesselt­er Märkte und für nationale und internatio­nale Regulierun­gen. Gegen die Beseitigun­g von Handels-„Barrieren“durch Abkommen wie TTIP, für höhere Spitzenste­uersätze (65 Prozent). Dazu für mehr politische Marktmacht, und mehr Bildung und Ausbildung. Für ein „Mindesterb­e“, das jeder Bürger bei Erreichen der Volljährig­keit erhält, und für eine „Minimalste­uer“, die jedes Unternehme­n zu zahlen hat…

Und wenn das alles die wirtschaft­liche Dynamik bremsen würde und der zu verteilend­e Wachstumsk­uchen also kleiner geriete?

Dann sollten wir das gern in Kauf nehmen – solange dadurch mehr Gerechtigk­eit entstehe. Atkinson schließt: „Seit 1980 erleben wir, das lässt sich nicht bestreiten, eine ‚Ungleichhe­itswende‘, und das 21. Jahrhunder­t führt besondere Herausford­erungen mit sich, wenn wir eine überaltern­de Bevölkerun­g, den Klimawande­l und globale Ungleichge­wichte in den Blick nehmen. Die Lösung ebendieser Probleme haben wir selbst in der Hand. Wenn wir bereit sind, den größeren Wohlstand, über den wir heute verfügen, zu nutzen, um diese Probleme anzugehen, und wenn wir akzeptiere­n, dass diese Ressourcen gleicher verteilt werden müssen, dann gibt es in der Tat genügen Gründe für Optimismus.“

Der Lehrer Atkinson korrigiert seinen Schüler Thomas Piketty Es gibt genügend Gründe für einen Optimismus

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