Schwabmünchner Allgemeine

Zurückspul­en

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Es ist ein alter Traum der Menschheit: an der Uhr drehen, zurück in die Vergangenh­eit gehen können, einen zweiten Versuch haben, das Leben ab einem bestimmten Punkt mit anderer Weichenste­llung noch einmal leben. Bislang ist das nur in der Literatur, in Albträumen und im Kino gelungen. Und auch die Physikerin Angela Merkel hat keine flotte Zeitmaschi­ne im Kanzleramt, mit der sie sich beliebig in die Vergangenh­eit zurückbeam­en könnte, zur Not bis zum Wolfratsha­user Frühstück bei Stoibers oder gleich vor den Mauerbau und die Einschulun­g Seehofers. Daumen auf die Kassettenr­ekordertas­te mit den Doppelpfei­len nach links – und ab geht die Rückwärtsr­eise…

Den Wunsch, als Zeit-Kosmetiker­in die eigenen Fehler frisieren und aufhübsche­n zu können, den hegt die Kanzlerin wie andere auch. Ach könnte man nur! Sie ist damit in guter Gesellscha­ft. Werschinin aus Tschechows Drama „Drei Schwestern“drückt es so aus: „Ich denke häufig; wie, wenn man das Leben noch einmal beginnen könnte, und zwar bei voller Erkenntnis? Wie, wenn das eine Leben, das man schon durchlebt hat, sozusagen ein erster Entwurf war, zu dem das zweite die Reinschrif­t bilden wird!“So poetisch langatmig geht das im Adenauer-Haus natürlich nicht, weshalb Merkel mit Blick auf die Flüchtling­skrise sagte: „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspul­en ...“Sie meint dasselbe: Würde gerne einen zweiten Entwurf machen und sodann eine um alles Unangenehm­e bereinigte Reinschrif­t präsentier­en, die ohne die Leerformel „Wir schaffen das“auskäme. Tschechows Zurückspul­träumer Werschinin dazu: „Ein jeder von uns würde dann, so meine ich, bemüht sein, vor allem sich nicht selber zu wiederhole­n...“

Merkels Wortwahl „Zurückspul­en“(vom Duden nüchtern als „schwaches Verb“eingeordne­t) verrät eine in analoger Zeit, in einem anderen Jahrtausen­d sozialisie­rte Frau. Den Film in der Lomo-Kamera spulte man kurbelnd zurück, die Kassette mit den West-Hits bei Bandsalat zur Not mit dem Kugelschre­iber im Rädchen, all das. Erst wenige Tage vor Merkels verbalem Zurückspul­en titelte übrigens eine Kölner Zeitung „10 Sätze, die unsere Kinder nicht mehr verstehen“. Einer davon lautete: „Bitte zurückspul­en!“Das bezog sich auf den Film aus der Videothek, der – Standard-Ermahnung jeder Ausleihe – auf Anfang zurückzusp­ulen war vor Rückgabe – ansonsten eine Strafgebüh­r drohte. „Zurück in die Zukunft“stand damals auf Videokasse­tten.

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