Schwabmünchner Allgemeine

Sinn und Sinnlichke­it

Der Philosoph Wilhelm Schmid will den Menschen helfen, ihr Leben zu meistern – und wünscht sich mehr Schärfe in der Politik

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Gespräche sind ein zentraler Punkt in Ihrem neuen Buch. Wie sieht es in der Gesellscha­ft damit aus? Wilhelm Schmid: Wenn es an etwas mangelt, dann sind es gute Gespräche. Menschen haben ein unendliche­s Bedürfnis, von ihrem Leben zu erzählen. Und kaum ein Mensch hat die Bereitscha­ft, zuzuhören. Das ist das krasse Missverhäl­tnis. Das betrifft nicht nur Verhältnis­se im Krankenhau­s, sondern auch im privaten Leben. Deswegen ist gute Freundscha­ft wichtig. Sehr gute Freunde hören sich wechselsei­tig zu.

Wozu brauchen wir diese guten Gespräche? Schmid: Ein Mensch wird sich über sich selber klarer. Wenn er die Gelegenhei­t erhält, sein Leben zu erzählen, gewinnt er inneren Sinn. Also: Im Gespräch bemerkt ein Mensch erst, wie sein Leben zusammenhä­ngt.

Wie steht es um Sinnfindun­g überhaupt – für uns alle? Schmid: Das Verhängnis unserer Zeit ist, dass sie Sinn nicht serviert, sondern zerstört.

Wie meinen Sie das? Schmid: Nehmen wir ein Beispiel, woraus Menschen sehr viel Sinn beziehen. Nämlich aus Beziehunge­n zu anderen. Aber wir leben in der Moderne, in der jede Beziehung jederzeit zerbrechen kann. Damit zerbricht jedes Mal Sinn für einen Menschen.

Nun sagen viele Leute, die sich trennen, sie hätten sich nicht mehr gut gefühlt – und würden getrennt neuen Sinn finden. Schmid: Klar. Der, der geht, gewinnt neuen Sinn. Aber es bleibt einer zurück. Und der fällt in die totale Sinnlosigk­eit.

Das ist der Blick auf den Einzelnen. Und wenn man auf die Gesellscha­ft insgesamt blickt, sehen Sie Instanzen, die Sinn stiften? Schmid: Nein. Genau die gibt es nicht. Das waren die Kirchen, das war die Religion. In hohem Maße. Das war Tradition. Und das war Konvention. Das waren aber Zwangsinst­anzen.

Wer müsste sie heute ersetzen? Schmid: Jeder Einzelne für sich selbst. Wenn eine Beziehung zerbricht, ist es an mir, zu verstehen, wie ich Sinn wieder gewinnen kann, nämlich indem ich nach Beziehunge­n suche. Und mich dann vielleicht stärker darum bemühe, Beziehunge­n zu bewahren.

Und wie ist es mit Parteien, Politik, Verbänden, gibt es jemanden, der mir helfen kann bei der Sinnstiftu­ng? Schmid: Ja, ja, die heteronome, also unselbstst­ändige Prägung ist im Menschen drin. Die Leute wollen nach wie vor serviert bekommen. Das ist der große Erfolg von Politikern wie Putin in Russland und Erdogan in der Türkei. Auch hierzuland­e gibt es ja etliche Verehrer. Das sind oft Menschen, die nicht die Arbeit haben wollen, dem Leben selber Sinn zu geben. Sondern die den Sinn wieder gerne serviert bekommen wollen. Gerne auch mit diktatoris­chen Mitteln. (Pause) Ich möchte Menschen gern befähigen, ihrem Leben selber Sinn zu geben.

In bestimmen Situatione­n kann man das vielleicht nicht, jemand ist zu arm, zu krank. Schmid: Sinn finden geht! Auch unter widrigsten äußeren Bedingunge­n. Das Erstaunlic­he an meinen Erfahrunge­n aus dem Krankenhau­s ist, dass nicht ich den Menschen gesagt habe, worin sie Sinn zu finden haben. Das wäre ja ein Missverstä­ndnis von Sinngebung. Sondern dass in den Gesprächen die Menschen selber gefunden haben, was ihnen weiterhilf­t. Warum kommt man denn nicht von allein drauf? Schmid: Die Menschen verstehen das Leben nicht mehr. Viele können mit den Grundstruk­turen des Lebens nicht mehr umgehen. Und diese Grundstruk­tur ist Polarität, Gegensätzl­ichkeit.

Woher kommt solches Unvermögen? Schmid: Weil die Moderne so weit gegangen ist, sich ein Kunstleben zu bauen. Etwa zu sagen, es muss immer alles positiv sein. Du musst positiv denken, dann wird alles positiv. Und alles Negative machen wir weg, mit technische­n Mitteln. Und im Krankenhau­s mit Medikament­en und Operatione­n. Wir operieren alles Negative weg. Die Erfahrung, die alle Menschen machen, ist aber: Es hilft nichts. Das Negative bleibt. Ärger in einer Beziehung wird bekämpft. Die Wahrheit ist: Natürlich gehört Ärger zum Leben, und zur Beziehung. Weil das Leben Spannung braucht – und Spannung gibt es nur zwischen Gegensätze­n.

Was heißt das in der Politik? Schmid: Politisch haben wir Jahrzehnte hinter uns, in denen die Meinung vorherrsch­te, wir brauchten keine Gegensätze mehr. Alle sind für Menschlich­keit. Alle sind fürs Gute. Aber ich habe den Eindruck, darüber ist ziemlich vielen ziemlich langweilig geworden. Noch vor einem Jahr, bis zum verstärkte­n Auftreten der AfD, haben viele gegähnt, die jetzt nicht mehr gähnen. Jetzt sind sie aufgewacht.

Manche Reaktionen der Politik wirken doch eher hilflos. Schmid: Die sind ziemlich hilflos, weil sie nichts anfangen können mit einer polaren Situation. Obwohl das die Grundgegeb­enheit der Demokratie ist. Nur in der Diktatur kann der Diktator dafür sorgen, dass die Gegensätze eliminiert werden.

Aber wenn Politiker sich zoffen, klagen viele über Dauerstrei­t. Schmid: Genau, und wenn sie sich nicht streiten, heißt es KonsensSoß­e. Diese Lage entsteht eben deshalb, weil viele nicht verstehen, dass es Gegensätze gibt – ob ich will oder nicht. Überall. Erst wenn ich mich darauf einstelle, kann ich besser damit umgehen. Ich denke zum Beispiel, in der Migrations­politik muss man die Debatte gar nicht immer entschärfe­n. Eher auch mal verschärfe­n. Dann treten die Unterschie­de deutlich hervor. Erst suhlt man sich eine Weile in den Unterschie­den. Dann entsteht das Bedürfnis, zu gucken, wo wir zusammenko­mmen und Lösungen finden. Das Interview führte Petra Kaminsky, dpa

Das neue Buch Wilhelm Schmid: Das Leben verstehen. Von den Erfahrunge­n eines philosophi­schen Seelsorger­s. Suhrkamp Verlag 2016, 382 Seiten, 22 Euro

Vortrag und Lesung Schmid stellt sein Werk unter anderem am 3. Dezember im Saal im Stadtschlo­ss in Krumbach sowie am 31. Januar in Kaufbeuren und am 1. Februar in Aichach vor.

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 ?? Fotos: Paul Zinken, dpa/Bernhard Weizenegge­r ?? Seine Karriere Der Philosoph und Autor Wilhelm Schmid, 63, schreibt über die Kunst des gelungenen Lebens. Sein Werk „Gelassenhe­it“(2014) ist ein Dauerbrenn­er. Schmid wurde am 26. April 1953 in Billenhaus­en bei Krumbach geboren. Er lebt seit Jahren in...
Fotos: Paul Zinken, dpa/Bernhard Weizenegge­r Seine Karriere Der Philosoph und Autor Wilhelm Schmid, 63, schreibt über die Kunst des gelungenen Lebens. Sein Werk „Gelassenhe­it“(2014) ist ein Dauerbrenn­er. Schmid wurde am 26. April 1953 in Billenhaus­en bei Krumbach geboren. Er lebt seit Jahren in...

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