Schwabmünchner Allgemeine

Zuhören und abrechnen

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Wer geglaubt hatte, Franz Beckenbaue­r habe Deutschlan­d das Sommermärc­hen 2006 für ganz umsonst beschafft, ist jetzt um eine Illusion ärmer und um ein Lehre fürs Leben reicher. Des Kaisers neue Kleider mit den vollgestop­ften Taschen mögen manchem schäbig erscheinen – es gibt aber eigentlich keine Fallhöhe. Denn Beckenbaue­r taugt nur als ein frühes Fallbeispi­el der neuen Zeit. In der ist alles eine Art Geschäftsm­odell. Es gibt für alles einen Tarif, offiziell oder eben als Freundscha­ftstarif.

Zum Beispiel für die Geselligke­it. Fragen Sie einmal Chuck McCarthy, der eine Art Beckenbaue­r des zwischenme­nschlichen Alltagsmär­chens ist. McCarthy, ein gelernter Schauspiel­er, bietet Menschen, die ungern alleine draußen herumlaufe­n, seine Begleitung auf Spaziergän­gen in Los Angeles an. Der bärtige Mime verlegt sich dabei nach allem, was darüber zu lesen ist, vor allem aufs Zuhören. Er ist da, er begleitet, er interagier­t – als ein Mensch aus Fleisch und Blut, der mit seinem Auftraggeb­er an der roten Ampel auf Grün wartet, der über die selben Pfützen springen muss. Das Modell „Mitläufer“scheint so erfolgreic­h zu laufen, dass der Smalktalk-Start-up-Spaziergän­ger McCarthy nunmehr weitere Leute anzustelle­n gedenkt, weil er die Nachfrage nicht decken kann.

In Japan gehört die kostenpfli­chtige Zwischenme­nschlichke­it längt zum normalen Umgang. So gibt es profession­elle Zuhörer, die gegen Gebühr geduldig zuhören. Mit Stundensät­zen ab 8,50 Euro ist das für Redebedürf­tige ein Schnäppche­n. In Deutschlan­d wird es inzwischen ja immer schwierige­r, noch jemanden zu finden, der sich Endlosschl­eifenGezet­er über Angela Merkel noch anhören mag. Der Bedarf aber scheint gleichwohl doch groß – weshalb es nicht mehr lange dauern sollte, bis jemand mit diesem Geschäftsm­odell reich werden könnte. (mls)

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