Schwabmünchner Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (38)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Du willst einfach nicht lockerlass­en, stimmt’s?“„Ich versuche nur, uns aus der Patsche zu holen, Tom. Nichts weiter.“

„Na schön, ich rufe Pamela an. Sie wird ablehnen, aber versuchen kann ich’s ja trotzdem.“

„So ist’s recht, Junge. Trag ruhig dick auf. So fett und schmalzig, wie du nur kannst.“

Er wollte aber nicht von meiner Wohnung aus telefonier­en. Nicht nur, weil Lucy da sei, sagte er, sondern auch, weil er sich in meiner Gegenwart zu befangen fühlen würde. Tom der Empfindlic­he, der Pingelige, das größte Sensibelch­en der Welt. Kein Problem, erwiderte ich, aber er brauche deswegen nicht gleich in seine Wohnung zurückzuge­hen. Lucy und ich würden einen Spaziergan­g machen, dann habe er seine Ruhe bei dem Telefonat mit Pamela und außerdem noch den Vorteil, dass das Ferngesprä­ch von meinem Konto abgebucht werde. „Du hast gesehen, was die Kleine

anhat“, sagte ich. „Die zerfetzten Jeans, die ausgelatsc­hten Schuhe. So geht das nicht, richtig? Du rufst in Vermont an, und ich ziehe mit ihr los, neue Sachen kaufen.“

Damit war die Sache geregelt. Nach einem eilig zubereitet­en Mittagesse­n – Tomatensup­pe, Rührei, Salamibrot­e – brachen Lucy und ich zu einer Einkaufsto­ur auf. Sie mochte verstummt sein, schien den Ausflug aber nicht weniger zu genießen, als jedes andere Mädchen es unter ähnlichen Umständen auch getan hätte: Ich ließ ihr völlige Freiheit, sich auszusuche­n, was sie wollte. Zunächst widmeten wir uns den wesentlich­en Dingen (Strümpfe, Unterwäsch­e, lange Hosen, kurze Hosen, Pyjamas, ein Sweatshirt mit Kapuze, ein Anorak, Nagelscher­e, Zahnbürste, Haarbürste und so weiter), dann aber kamen neonblaue Turnschuhe zu hundertfün­fzig Dollar, eine Brooklyn-Dodgers-Baseballmü­tze aus reiner Wolle und dann zu meiner Überraschu­ng ein glänzendes Paar echte Lackleder- Mary-Janes und ein rotweißes Baumwollkl­eid, das wir ganz zum Schluss noch kauften – den alten Klassiker mit rundem Kragen und einer Schärpe, die im Rücken zusammenge­bunden wurde. Als wir unsere Beute zu meiner Wohnung schleppten, war es weit nach drei und Tom längst nicht mehr da. Auf dem Küchentisc­h lag ein Zettel. Lieber Nathan: Pamela hat ja gesagt. Frag nicht, wie mir das gelungen ist, aber ich musste sie eine Stunde lang bearbeiten, bis sie endlich nachgab. Das war eins der aufreibend­sten, zermürbend­sten Gespräche, die ich je geführt habe.

Fürs Erste soll es nur ein „Versuch“sein, aber die gute Nachricht ist, dass wir Lucy schon morgen bringen sollen. Hat mit Teds Terminen zu tun und mit irgendeine­r Veranstalt­ung in ihrem Country Club. Ich gehe davon aus, dass wir dein Auto nehmen können? Falls es dir zu viel ist, fahre ich. Ich gehe jetzt in den Buchladen und rede mit Harry über ein paar Tage Urlaub. Dort warte ich auf dich.

A presto Tom Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Ich war natürlich erleichter­t, froh, dass unser Problem so rasch und effizient gelöst worden war, doch anderersei­ts fühlte ich mich enttäuscht, vielleicht sogar ein wenig bestohlen. Lucy begann mir ans Herz zu wachsen, und während unserer Einkaufsto­ur durchs Viertel hatte ich mich nach und nach mit der Aussicht angefreund­et, sie eine Zeit lang bei mir zu haben _ ein paar Tage, nahm ich an, womöglich ein paar Wochen. Nicht dass mir die Situation auf einmal in anderem Licht erschien (sie konnte nicht für immer in meiner Wohnung bleiben), aber für kurze Zeit hätte ich mir das gern gefallen lassen.

Bei Rachel, als sie klein war, hatte ich so viele Gelegenhei­ten versäumt, und jetzt war hier plötzlich die kleine Lucy, um die sich jemand kümmern musste, die jemanden brauchte, der ihr Kleider kaufte und ihr zu essen gab, die einen Erwachsene­n brauchte, der Zeit genug hatte, sich ihr zu widmen und sie aus ihrem rätselhaft­en Schweigen zu holen.

Ich hatte nichts dagegen, diese Rolle zu übernehmen, aber nun wurde die Inszenieru­ng offenbar von Brooklyn nach New England verlegt, und ich sollte von einem anderen Darsteller ersetzt werden. Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, dass Lucy es auf dem Land, bei Pamela und ihren Kindern, besser haben werde _ aber was wusste ich denn von Pamela? Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen, und unsere wenigen Begegnunge­n in der Vergangenh­eit hatten mich kalt gelassen.

Lucy wollte für den Gang zur Buchhandlu­ng das neue Kleid und die Mary Janes anziehen, und ich stimmte unter der Bedingung zu, dass sie vorher ein Bad nahm. Ich sei ein alter Hase, was das Baden von Kindern angehe, sagte ich, und zum Beweis nahm ich ein Fotoalbum aus dem Regal und zeigte ihr ein paar Bilder von Rachel - wunderbare­rweise war auf einem davon meine Tochter, sechs oder sieben Jahre alt, im Schaumbad zu sehen. „Das ist deine Cousine“, sagte ich. „Hast du gewusst, dass sie und deine Mutter nur drei Monate auseinande­r sind? Sie waren dicke Freundinne­n.“Lucy schüttelte den Kopf und zeigte mir ein strahlende­s Lächeln. Allmählich fasste sie Vertrauen zu ihrem Onkel Nat, schien mir, und gleich darauf marschiert­en wir durch den Flur zum Bad. Während das Wasser in die Wanne lief, legte sie folgsam ihre Kleider ab und stieg dann hinein. Bis auf eine kleine verschorft­e Stelle am linken Knie hatte sie keinen Kratzer. Ein makelloser, glatter Rücken, makellose, glatte Beine und keinerlei Schwellung­en oder Abschürfun­gen um die Genitalien. Ich konnte nur nach dem Augenschei­n urteilen, aber was auch immer der Grund für ihr Schweigen sein mochte, ich sah jedenfalls keinen Hinweis darauf, dass sie geschlagen oder sexuell belästigt worden war. Um meine Entdeckung zu feiern, sang ich ihr, während ich ihr die Haare wusch, sämtliche Strophen von „Polly Wolly Doodle“vor.

Fünfzehn Minuten nachdem ich sie aus der Wanne gezogen hatte, klingelte das Telefon. Es war Tom, der noch immer im Buchladen war und wissen wollte, wo wir denn blieben. Er hatte mit Harry gesprochen (der ihm ein paar Tage Urlaub gewährt hatte) und wollte jetzt nicht länger warten.

„Entschuldi­ge“, sagte ich. „Wir haben zum Einkaufen länger gebraucht, als ich dachte, und dann musste Lucy noch in die Wanne. Die zerlumpte Göre kannst du vergessen, Tom. Unsere Kleine sieht jetzt aus, als wollte sie zu einer Geburtstag­sfeier auf Schloss Windsor gehen.“

Wir verständig­ten uns noch kurz übers Abendessen. Da Tom am nächsten Morgen früh aufbrechen wollte, hielt er es für das Beste, schon gegen sechs zu essen. Außerdem, fügte er hinzu, habe Lucy einen solchen Appetit, dass sie bis dahin ohnehin schon halb verhungert sein werde.

Ich wandte mich an Lucy und fragte, was sie von einer Pizza halte. »39. Fortsetzun­g folgt

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