Wird es doch noch knapp in Großbritannien?
Parlamentswahlen Die Labour-Partei holt auf. Die Konservativen versuchen jetzt, bei den Arbeitern zu punkten
Sunderland Es ist ein grauer Mittwoch. Im Zentrum der englischen Stadt Sunderland sind nur wenige Menschen unterwegs, die Angestellten in den etlichen Wettbüros sowie Ein-Pfund-Läden sitzen gelangweilt hinter den Schaufenstern. Das Bild der Stadt mit ihren 70er-Jahre-Bauten und der Leere wirkt auf Außenseiter beinahe trostlos und spiegelt damit die Stimmung vieler Bewohner wider. Unzufrieden mit der Politik, unzufrieden mit der wirtschaftlichen Situation, unzufrieden mit den Lebensumständen.
Es war Sunderland, das symbolisch für das Brexit-Votum im vergangenen Jahr stand. Denn obwohl der exportorientierte Autobauer Nissan in seiner Fabrik rund 7000 Arbeiter beschäftigt und etliche Zulieferbetriebe um sich schart, stimmten mehr als 60 Prozent der Bewohner für den Ausstieg aus der EU. Etliche Menschen wünschen sich die „gute alte Zeit“zurück, wie Politikwissenschaftler Simon Lee von der Universität Hull sagt. Damals, als Werften und Kohlegruben für Jobs sorgten. Oder die Region zumindest mehr Aufmerksamkeit aus London erhielt. Wenn die Politiker von „Abgehängten“und „Vergessenen“ sprechen, meinen sie die Menschen im Nordosten Englands.
Vor nicht allzu langer Zeit noch mussten sozialdemokratische Kandidaten hier kaum um ihre Sitze kämpfen. Das Herz von Labour schlug im von der Arbeiterklasse geprägten Norden Englands. Das Wahlverhalten wurde in der Regel in der Familie weitervererbt. Einmal Labour, immer Labour. Die Konservativen waren abgetaucht. Doch dieses Jahr verteilen auch sie Handzettel und sogar Regierungschefin Theresa May schaute vorbei. Die Tories profitieren von den anstehenden Brexit-Verhandlungen und der Unzufriedenheit der Menschen mit Labour. Die Premierministerin genießt in jenem Landesteil vor allem deshalb Popularität, weil sie das Thema EU mit ihrem harten Brexit- und Anti-Einwanderungskurs erfolgreich besetzt. Ihre Strategie, die Labour-Partei in deren Hochburgen zu attackieren, scheint zumindest in Teilen aufzugehen.
Politexperte Simon Hull würde das jedoch nicht überbewerten. Seiner Meinung nach erinnert Theresa May viele Menschen an ihre Vorgängerin Margaret Thatcher, die für den Verfall der alten Industriezentren in Nordengland verantwortlich gemacht wird. „Darüber herrscht bis heute eine enorme Verbitterung, diese Wunde ist nicht verheilt“, so Hull. Dass die Konservativen trotzdem zulegen könnten, sage mehr über die Labour-Partei und „ihre Selbstzufriedenheit“aus. „Sie sahen den Erfolg in Orten wie Sunderland als gegeben an.“
Das könnte sich rächen, indem viele ehemalige Labour-Anhänger der Wahl fernbleiben oder sich für kleine Parteien entscheiden könnten. In etlichen Gegenden gab es Mehrheiten für den Brexit und bei der letzten Wahl fuhr die rechtspopulistische Partei Ukip mit ihrer Anti-Einwanderungsrhetorik Erfolge ein. Diese Stimmen will nun May übernehmen, um sich eine überwältigende Mehrheit im Parlament zu sichern.
Die Labour-Partei hat keine klare Strategie zum EU-Ausstieg, auch weil sich die meisten Abgeordneten – anders als das Gros ihrer Wähler – für den Verbleib in der Staatengemeinschaft ausgesprochen haben. Die Brexit-Fans haben das nicht vergessen. Deshalb versucht Labour-Chef Jeremy Corbyn seit Wochen, die Aufmerksamkeit auf innenpolitische Themen wie Sicherheit, Bildung und das Gesundheitswesen zu lenken.
Laut Umfragen mit gewissem Erfolg: Denn der Abstand zu den Konservativen ist geschmolzen. Doch die Wahlkämpfer im Nordosten Englands trauen den Meinungsforschern nicht. Ihre Realität? Sie hören an den Wohnungstüren im Nordosten Englands vor allem zwei Themen, die die Menschen umtreiben: Brexit und Einwanderung. Es sind Theresa Mays Themen.