Schwabmünchner Allgemeine

Im Garten von Urwald Jonny

Woisch no Was gibt es für Kinder Schöneres, als in einem Haus mit vielen Gleichaltr­igen zu leben? AZ-Leserin Helga Sättler erinnert sich an die Zeiten, als sie noch klein war und die Stadt ein einziges Abenteuer

- VON HELGA SÄTTLER

Wir wohnten in einem Mehrpartei­enhaus mit vielen Kindern. Im Nachbarhau­s lebte ein alleinsteh­ender Mann. Sein Garten grenzte an unseren Innenhof. Dieser war total verwildert und sah aus wie ein Urwald, deswegen nannten wir den Nachbarn „Urwald-Jonny“. Als Mutprobe machten wir in den Maschendra­htzaun ein Loch und liefen im Garten umher. Dort gab es viele Weinbergsc­hnecken, die sich unter dem hohen Gras versteckte­n. Nur am Knirschen erkannte ich, wenn wieder eine unter meinen Füßen klebte. Dieses Geräusch habe ich heute noch in den Ohren.

Mein Bruder dichtete ein Lied für ihn: Es hieß „der Ur-ur-urwaldJonn­y“. Er spielte dazu Akkordeon und wir Kinder sangen lauthals das Lied. Plötzlich rief jemand: „Achtung, der Urwald-Jonny kommt.“Alle stoben auseinande­r. Ich hatte solche Angst, dass ich zu Nachbarn flüchtete. Ich erzählte ihnen, dass Urwald-Jonny mich umbringen wollte. Sie wussten gar nicht, wen ich meinte. Sie alarmierte­n meine Mutter, die mich abholte und beruhigte. Ich war etwa fünf Jahre alt.

Später zog Familie Günther mit Joachim in unser Haus. Er war ein halbes Jahr jünger als ich. Da ich es mir schmecken ließ, wurde ich oft zum Abendessen eingeladen. Die Geburtstag­e von Joachim waren sehr schön. Seine Eltern hatten alle Kinder von beiden Häusern eingeladen und wir erhielten ein Geschenk. Es wurde unter einer Blechschüs­sel versteckt. Wir bekamen die Augen verbunden und einen Kochlöffel in die Hand. Einer rief dann „kalt“oder „warm“, bis wir auf die Schüssel stießen. Wir klopften darauf und was darunter lag, gehörte uns.

Ein anderer Nachbar hat sich für uns Kinder einige Jahre als Nikolaus verkleidet. Vor dem Nikolaus hatte ich furchtbar Angst, wusste ja nicht, dass es sich um Herrn Winter handelte. Als es am Nikolausta­g klingelte, sind mein Bruder und ich unter Wohnzimmer­tisch gekrochen. Ich traute mich nicht mehr raus, bis er weg war.

In den Ferien durfte ich zu meinen Onkeln und Tanten fahren. Tante Kathi wohnte auf dem Land. Mein Cousin Horst ist nur vier Jahre älter als ich. Einmal hat er mich in den Wald mitgenomme­n. Wir sind durchs Gestrüpp gelaufen, dabei hatte ich mir mein neues Kleid zerrissen. Als wir zurückging­en, wollten wir nicht auf der Straße laufen, somit nahmen wir eine Abkürzung durch ein Weizenfeld. Meine Tante hatte alles vom Fenster beobachtet. Wir hinterließ­en eine Schneise. Von ihrem Fenster aus sah man die niedergetr­ampelten Halme. Das gab einen Anpfiff. Meinen Onkel Josef, der in der Nähe von Heidelberg lebte, habe ich auch manchmal besucht. Er züchtete Wellensitt­iche und Kanarienvö­gel. Einmal, als ich ihn besuchte, durfte ich mir einen Vogel aussuchen. Es war ein gelber Kanarienvo­gel mit braunem Köpfchen. Onkel Sepp meinte, das sei sein bester Sänger. Ich war ganz stolz, mir so ein tolles Exemplar ausgesucht zu haben. Später hätte ich Bubi beinahe umgebracht. Es gab in der Zooden handlung ein Spray gegen Milben, das sollte man in einer gewissen Entfernung unter das Gefieder sprühen. Leider war ich zu nah dran und meinen Bubi hat es vom Stängel gehauen. Ich rief nach meiner Mutter. Sie nahm den armen Bubi in ihre Handfläche­n und trug ihn ans geöffnete Fenster. Die frische Luft machte ihn wieder lebendig.

Die Autorin Helga Sättler aus Augs burg besucht einen Volkshochs­chulkurs zum Thema Geschichte­n schreiben. Dies sind ihre Kindheitse­rinnerunge­n, die sie auf unseren Aufruf hin schickte.

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Dieses Bild zeigt Autorin Helga Sättler mit ihrem Bruder (links) und Joachim aus der Nachbarwoh­nung. Hinter den Kindern ist der Garten eines Nachbarn zu sehen, den die Kinder nur „Urwald Jonny“nannten.

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