Schwabmünchner Allgemeine

Zeigt her eure Hände

Was ist dran an der Lehre von den Lebenslini­en? Eine Spurensuch­e – prominent und prekär

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Als der Porträtfot­ograf Walter Schels einen Termin bei Helmut Schmidt hatte, erwartete er einen Politiker mit zupackende­m Händegriff. Aber der frühere Kanzler hatte „einen weichen, eher schwammige­n Händedruck“, so Schels. Angela Merkel fasste fester zu, auch Joschka Fischer und Richard von Weizsäcker. Ebenso Künstler wie Günter Grass und der Maler HR Giger, Musiker wie José Carreras und Campino, der Kirchenman­n Kardinal Karl Lehmann und der XIV. Dalai Lama. Er hat sie und ihre Hände alle fotografie­rt. Aber in seinem Buch „Hände“zeigt Schels neben Prominente­n auch Überlebend­e des Holocaust, Transsexue­lle, Menschen mit Handicap, Zwillinge und Sterbende. Und dazu: einen Schimpanse­n. Warum?

Der 1936 geborene Walter Schels hat während seiner ganzen Berufszeit hinter der Kamera stets die menschlich­e Physiognom­ie gesucht. Seine Bilder waren oft Charakters­tudien. Er hat auf vielen Reisen und als er in Barcelona oder New York lebte, Menschen abgelichte­t. Neben Gesichtern interessie­rten ihn immer Hände, „seit ich denken kann“, so Schels. Erst jetzt werden viele seiner Porträts, bei denen die Porträtier­ten ihr Gesicht mit beiden Händen rahmen – Handinnens­eiten außen –, in einem prächtigen Band veröffentl­icht. „Mir hat die Beschäftig­ung mit Handlinien, auch mit meinen eigenen, geholfen, mich selbst zu akzeptiere­n, als derjenige Mensch, der ich bin, mit all meinen Anlagen, auch jenen, die ich ablehne“, gesteht der 81-Jährige.

Zum gemeinsame­n Projekt steuerte seine Frau, die Spiegel-Journalist­in Beate Lakotta, den ausführlic­hen Essay „Das Skript in unserer Hand“bei. Das Ehepaar besuchte Handleser mit wissenscha­ftlichem Anspruch, Evolutions­biologen etwa. „Erst durch die Hand, sagen die Anthropolo­gen, wurde das Tier zum Menschen. Mit ihr und durch sie entwickelt­en unsere prähistori­schen Vorfahren Gehirn, Intelligen­z, Geist… Rund 17000 Tastzellen machen unsere Hand zu einem unfassbar komplexen Sinnesorga­n, mit ihr berühren wir andere und werden von anderen berührt“, schreibt die Journalist­in. Die Hände ihres Mannes sind Lakotta am meisten vertraut, sie findet sie schön. Er findet seine Hände hässlich.

Zitiert wird in Großschrif­t ein Motto des Dichters Rainer Maria Rilke: „Hände sind schon ein komplizier­ter Organismus, ein Delta, in dem viel fern kommendes Leben zusammenfl­ießt, um sich in den großen Strom der Tat zu ergießen.“

Hände verraten sehr viel von der Individual­ität eines Menschen. Schels hat Babys Minuten nach ihrer Geburt fotografie­rt. „Da war schon alles da“, sagt er. Er wurde „ein leidenscha­ftlicher Händesamml­er“. Seine Erkenntnis: Hände sprechen, wenn man sie lesen kann. Sie verraten Persönlich­keitsmerkm­ale, soziales Verhalten und wie gesund eine Person ist. Viele Menschen, vor allem Männer, zeigen ihre Hände nicht gern Frauen. Sie glauben instinktiv, diese könnten darin lesen.

Schon in früheren Zeiten sprachen Hände. Deshalb wurden sie fotografie­rt oder in Gipsabgüss­en festgehalt­en, wie die von Napoleon, Voltaire, Clara Schumann, Stalin, Einstein, Thomas Mann, Max Schmeling oder dem Sänger Caruso.

Anthropolo­ge Karl Grammer, einer der führenden Verhaltens­forscher in Europa, den das Paar in Wien besuchte, erklärte: „Wir brauchen etwa eine Zehntelsek­unde, um uns von Fremden ein Bild zu machen“, Gesicht und Hände gäben Auskunft. Das sei „nicht politisch korrekt“, aber für Verhaltens­forscher ein klarer Erfahrungs­wert. „Gesicht, Ohren, Iris, Stimme, Körpergeru­ch, Gangmuster und eben auch die Hände eines Menschen sprechen eine gleiche, unverwechs­elbare Sprache“, resümiert Lakotta. Selbst Dominanz und Neigung zur Gewaltanwe­ndung, sexuelle Stärke und Promiskuit­ät sei in den Handlinien festgeschr­ieben. Man müsse sie nur zu deuten wissen.

Beate Lakotta hat sich für ihren Essay tief hineingear­beitet in die Chirologie. Sie nähert sich sichtlich skeptisch, wie es sich für eine der Aufklärung verpflicht­ete Journalist­in gehört. Dennoch kommt sie dem Gedanken der „Handanalys­e als Schlüssel zur Persönlich­keit“sehr nahe. Ihr lebenserfa­hrener Gatte erlebt bei den Gesprächen, dass er vieles über das Mosaik in unseren Handlinien schon geahnt, ja gewusst hat. Die Gattin hält sich eher zurück.

Die Handleseri­n Marianne Raschig etwa, die schon im frühen 20. Jahrhunder­t in 2500 Handlinien schaute, unter anderem in die von Albert Einstein, Thomas Mann oder Bertolt Brecht, entdeckte bei den empirische­n Untersuchu­ngen die besonderen Begabungen dieser Persönlich­keiten. In Wissenscha­ftskreisen wurde das nicht sonderlich ernst genommen, es war zu hypothetis­ch. Erst im 21. Jahrhunder­t fand die alte Erfahrungs­wissenscha­ft Anerkennun­g. Computer mit gewaltigen Rechenkapa­zitäten ermögliche­n es, physische Merkmale und Persönlich­keit miteinande­r in Verbindung zu bringen. So gilt heute die Ringfinger-Theorie als nachgewies­en. Ist der Ringfinger deutlich länger als der Zeigefinge­r, gilt der Handeigner als besonders maskulin. Männer mit relativ langen Ringfinger­n produziere­n mehr Spermien und sind zeugungsfä­higer. Frauen mit dominantem Ringfinger sind durchsetzu­ngsfähiger und sexuell potenter. Diese Zusammenhä­nge existieren.

Lakottas Resümee „nach allem, was wir gehört hatten“, ist, dass ein „Skript in unseren Händen steckt“. Zum Glück ist es nur teilweise lesbar, denn wenn wir alles lesen könnten, dann wäre „dies das Ende der Faszinatio­n des Menschen für seine Hände“, so Lakotta. Deshalb gilt: „Unlesbarke­it, die Lesbarkeit impliziert.“

In Zehntelsek­unden machen wir uns ein Bild des anderen

Roland Mischke

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Unter anderem bei Walter Schels vor der Kamera (von links nach rechts): Angela Merkel, der Dalai Lama und Beate Uhse (oben) sowie Günter Grass, der Schimpanse Charly und Helmut Schmidt (unten).
 ??  ?? » Scheels Buch „Hände“mit einem Essay von Beate Lakotta ist erschienen bei S. Fischer (192 Seiten, 40 Euro)
» Scheels Buch „Hände“mit einem Essay von Beate Lakotta ist erschienen bei S. Fischer (192 Seiten, 40 Euro)

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