Schwabmünchner Allgemeine

Die Franzosen servieren ihre politische Klasse ab

Dem neuen Präsidente­n Macron gelingt eine beispiello­se Umwälzung des alten Parteiensy­stems. Es ist eine „Revolution“aus der Mitte der Gesellscha­ft heraus

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Frankreich bietet ein politische­s Schauspiel von historisch­er Dimension. Das alte Parteiensy­stem bricht zusammen; die seit Jahrzehnte­n herrschend­e politische Klasse wird vom Wähler abserviert. Ein junger Mann, der im Alleingang zum Präsidente­n aufgestieg­en ist und nun mit seiner erst vor einem Jahr gegründete­n Bewegung „En Marche!“die absolute Mehrheit im Parlament ansteuert, wird fortan nahezu alle Macht in Händen halten. Das ist kein Erdrutsch – das ist ein Tsunami, der über diese große europäisch­e Nation hinwegraus­cht und das alte, das „Ancien Régime“zerschmett­ert.

Der 39 Jahre junge Staatschef Emmanuel Macron greift nicht zu hoch, wenn er von einer „Revolution“spricht. Es rollen keine Köpfe wie im Jahre 1789, als sich die Franzosen in einem welthistor­ischen Augenblick gewaltsam der absolutist­ischen Monarchie entledigte­n und der Idee der Demokratie in ganz Europa zum Durchbruch verhalfen. Es geht nicht um Leben und Tod oder um einen radikalen Wechsel des Systems an sich. Aber die friedliche Umwälzung der Verhältnis­se, die Macron in atemberaub­endem Tempo herbeigefü­hrt hat, sucht ihresgleic­hen in der jüngeren Geschichte demokratis­cher Staatsordn­ungen. Der Neuanfang, den Frankreich auf der Suche nach Erneuerung wagt, ist beispiello­s.

Die Franzosen schicken einen Großteil ihres abgehobene­n, dem Volk seit langem entfremdet­en Führungspe­rsonals in Rente und verbannen Sozialiste­n und Konservati­ve, die seit 1958 abwechseln­d am Ruder waren und mit CDU/CSU und SPD vergleichb­ar sind, von den Schalthebe­ln der Macht. Das Besondere daran ist: Es ist keine populistis­che Revolte von jener grobianisc­hen, nationalis­tischen Sorte, wie sie Donald Trump entfesselt hat. Auch der begnadete Menschenfi­scher Macron ist ein Mann, der die Selbstinsz­enierung beherrscht und die Sehnsucht nach Veränderun­g instinktsi­cher bedient. Doch er steht für demokratis­che Grundwerte, für Europa und für ein soziallibe­rales Programm. Diese Revolution findet also aus der gesellscha­ftlichen Mitte heraus statt. Die große Mehrheit der politische­n Novizen, die unter dem Banner ihrer Lichtgesta­lt ins Parlament einziehen und dem Chef das „Durchregie­ren“ermögliche­n werden, ist gut situiert und begeistert vom Ziel ihres Patrons, alte Verkrustun­gen aufzubrech­en und das im ökonomisch­en Wettbewerb zurückgefa­llene Land wieder aufzuricht­en. Das überschuld­ete, überbürokr­atisierte, von hoher Arbeitslos­igkeit und einer übermäßige­n Staats- und Abgabenquo­te geplagte Land braucht eine Rosskur. Man wird sehen, wie weit Macrons Mut und Kraft für beherzte, auch unpopuläre Reformen reichen. Die Lockerung des starren Arbeitsrec­hts, das neue Jobs verhindert, wird zu seinem ersten Härtetest. Macron wird es mit knallharte­n Massenprot­esten auf den Straßen und erbitterte­m gewerkscha­ftlichen Widerstand zu tun bekommen. Das Mehrheitsw­ahlrecht lässt die um „En Marche!“gruppierte Mitte stärker erscheinen, als sie ist. Das Land ist tief gespalten, die Integratio­n der muslimisch­en Einwandere­r misslungen. Die Hälfte der Wähler ist am Sonntag daheim geblieben; das Potenzial der extremen Rechten und Linken liegt unveränder­t bei über 40 Prozent.

Macron ist kein Zauberer, der das in vielen Jahren zerstörte Vertrauen in die politische­n Eliten im Handumdreh­en wiederhers­tellen könnte. Dazu bedarf es konkreter Erfolge und des Nachweises, dass Moral wieder etwas zählt in der Politik. Umgekehrt gilt: Scheitert Macron mit seiner Politik von Maß und Mitte, bringt er Frankreich nicht voran und schafft keinen Aufbruch, dann schlägt doch noch die Stunde der Le Pens und Mélenchons.

Hat er den Mut und die Kraft für beherzte Reformen?

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