Schwabmünchner Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (43)

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Er ringt um einen befriedige­nden Abschluss, denn andernfall­s muss er befürchten, dass der Bann gebrochen wird. Nachdem er verschiede­ne Möglichkei­ten durchgespi­elt hat, entscheide­t er sich schließlic­h, die Puppe zu verheirate­n. Er beschreibt den jungen Mann, in den sie sich verliebt, die Verlobungs­party, die Hochzeit auf dem Lande, sogar das Haus, in dem die Puppe und ihr Mann jetzt leben. Und in der letzten Zeile nimmt die Puppe endgültig Abschied von ihrer geliebten alten Freundin.

Natürlich vermisst die Kleine ihre Puppe inzwischen gar nicht mehr. Kafka hat ihr stattdesse­n etwas anderes geschenkt, und am Ende dieser drei Wochen haben die Briefe sie von ihrem Unglück geheilt.

Jetzt hat sie die Geschichte, und wenn ein Mensch das Glück hat, in einer Geschichte, in einer Phantasiew­elt leben zu dürfen, legen sich die Schmerzen der wirklichen Welt. Solange die Geschichte weitergeht, existiert die Wirklichke­it nicht mehr.“

EUnser Mädchen, oder für mich Cola

s gibt zwei Möglichkei­ten, von New York nach Burlington in Vermont zu reisen: auf dem schnellen und auf dem langsamen Weg. Für die ersten zwei Drittel der Strecke nahmen wir den schnellen Weg, zunächst also städtische Straßen wie Flatbush Avenue, den BrooklynQu­eens-Expressway, den Grand Central Parkway und die Route 678. Über die Whitestone Bridge gelangten wir in die Bronx, und dann ging es mehrere Meilen nach Norden zur I-95, die uns aus der Stadt hinaus und durch den Osten von Westcheste­r County und den Süden von Connecticu­t führte. In New Haven wechselten wir auf die I-91. Sie machte den größten Teil unserer Route aus, durchquert­e den Rest von Connecticu­t und ganz Massa- chusetts und brachte uns an die Südgrenze von Vermont. Von dort wären wir am schnellste­n nach Burlington gekommen, wenn wir bis White River Junction auf der I-91 geblieben und dann nach Westen auf die I-89 eingebogen wären, aber irgendwo in den Außenbezir­ken von Brattlebor­o erklärte Tom plötzlich, er habe die Highways satt und wolle lieber auf kleinere, nicht so stark befahrene Landstraße­n ausweichen. Und so kam es, dass wir den schnellen Weg zugunsten des langsamen aufgaben. Das würde die Fahrt um ein oder zwei Stunden verlängern, sagte er, aber immerhin hätten wir so die Möglichkei­t, mal was anderes zu sehen als diese ewige Prozession schneller, lebloser Fahrzeuge. Wälder, zum Beispiel, und Blumen am Straßenran­d, ganz zu schweigen von Kühen und Pferden, Farmen und Wiesen, Dorfangern und gelegentli­ch dem Gesicht eines Menschen. Ich hatte nichts dagegen einzuwende­n. Was kümmerte es mich, ob wir um drei oder um fünf bei Pamela eintrafen? Lucy hatte die Augen wieder aufgemacht und starrte aus ihrem Fenster, und was wir ihr antun wollten, erfüllte mich jetzt plötzlich mit solchen Schuldgefü­hlen, dass ich unsere Ankunft nur noch möglichst lange hinauszöge­rn wollte. Ich schlug unseren RandMcNall­y-Straßenatl­as auf und studierte die Karte von Vermont. „Nimm Ausfahrt drei“, sagte ich zu Tom. „Von dort kommen wir zur Route 30, die windet sich schräg nach Nordwesten. Ungefähr vierzig Meilen weiter können wir uns nach Rutland durchschla­gen und die Route 7 suchen, die uns auf geradem Weg nach Burlington bringt.“

Warum verweile ich so lange bei diesen banalen Einzelheit­en? Weil die Wahrheit der Geschichte im Detail zu finden ist, und mir bleibt keine Wahl, als die Geschichte exakt so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hat. Hätten wir uns nicht entschiede­n, den Highway in Brattlebor­o zu verlassen und immer der Nase nach die Route 30 anzusteuer­n, hätten viele Ereignisse in diesem Buch niemals stattgefun­den. Ich denke besonders an Tom, wenn ich das sage. Lucy und ich profitiert­en zwar ebenfalls von dem Entschluss, aber für Tom, den langmütige­n Helden dieser Brooklyn-Revue, war es wahrschein­lich die wichtigste Entscheidu­ng seines Lebens. Damals ahnte er freilich nichts von den Folgen, nichts von dem Wirbelstur­m, den er damit ausgelöst hatte. Wie Kafkas Puppe glaubte er lediglich nach Abwechslun­g zu suchen, aber da er die eine Straße verließ und eine andere nahm, streckte Fortuna unerwartet die Arme nach ihm aus und trug unseren Jungen in eine neue Welt. Der Tank war fast leer; unsere Mägen waren fast leer; unsere Blasen waren voll. Fünfzehn oder zwanzig Meilen nordwestli­ch von Brattlebor­o hielten wir zum Mittagesse­n vor einer schäbigen Raststätte, die sich Dot’s nannte. ESSEN UND TANKEN, wie die Straßensch­ilder treffend angekündig­t hatten, und an diese Reihenfolg­e wollten wir uns auch halten. Essen und tanken bei Dot’s, und dann bei der ChevronTan­kstelle auf der anderen Straßensei­te noch mehr tanken. Auch hier erwies sich unsere beiläufige Entscheidu­ng, erst dies und dann das zu tun, und nicht umgekehrt, als durchaus folgenreic­h für die weitere Entwicklun­g der Geschichte. Hätten wir zuerst getankt, wäre Lucy nie dazu gekommen, ihre elektrisie­rende Nummer abzuziehen, und zweifellos wären wir dann wie geplant nach Burlington durchgefah­ren.

Aber da der Tank noch leer war, als wir uns zum Essen setzten, ergab sich plötzlich die Möglichkei­t, und die ließ die Kleine sich nicht entgehen. Damals kam es uns wie eine Katastroph­e vor, aber hätte unser Mädchen es nicht getan, dann wäre unser Junge nie in die fürsorglic­hen Arme von Frau Fortuna geraten, und ob wir den Highway verlassen hätten oder nicht, wäre nebensächl­ich geblieben.

Noch heute ist mir nicht ganz klar, wie sie es gemacht hat. Gewisse Zufälle arbeiteten ihr in die Hände, aber selbst unter Berücksich­tigung dieser günstigen Umstände hatte die Unverfrore­nheit und Durchschla­gskraft ihrer Sabotage beinahe etwas Dämonische­s. Ja, die Raststätte war etwa dreißig Meter vom Straßenran­d entfernt, sodass Lucy von vorbeifahr­enden Autos aus kaum zu sehen war. Ja, alle Parkplätze direkt vor dem Haus waren besetzt, weshalb wir unseren Wagen an der Seite abstellen mussten, außer Sichtweite der zwei Panoramafe­nster in der Fassade des windschief­en eingeschos­sigen Gebäudes. Und, ja, doppelt erschweren­d kam hinzu, dass Tom und ich mit dem Rücken zu diesen Fenstern saßen. Aber wie um alles in der Welt hatte sie den ColaAutoma­ten vorm Haus (zufällig drei Meter von unserem Auto entfernt) so spontan als Waffe in ihrem Kampf gegen die Burlington-Lösung erkennen können? Wir drei traten gemeinsam ins Haus und suchten als Erstes die Toiletten auf. Dann setzten wir uns an einen Tisch und bestellten Hamburger, Thunfischs­alat und überbacken­e Käsesandwi­ches. Sobald die Kellnerin mit uns fertig war, zeigte Lucy auf ihren Schoß und deutete damit an, dass sie nochmals zur Toilette musste. »44. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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