Schwabmünchner Allgemeine

Der alte Mann und sein Haus

Porträt Adalbert Roth hat sein ganzes Leben in derselben Immobilie gelebt. Er ist dort aufgewachs­en, hat Mitbewohne­r ein- und ausziehen sehen und wollte selbst doch nie woanders leben. Eine Geschichte von Heimat

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Ein Haus ist immer auch Erinnerung­sort. Es ist, wie der französisc­he Philosoph Gaston Bachelard schreibt, „unser Winkel der Welt“. Der Augsburger Adalbert Roth kann das bezeugen: Er lebt seit 90 Jahren in seinem Haus im Spickel.

1927 wurden die Mauern des Hauses in der Spickelstr­aße hochgezoge­n, in dem Roth mit Ausnahme von etwa vier Jahren sein Leben verbracht hat. Was heute ein Durchgangs­zimmer und Garderobe ist, was früher sein Kinderzimm­er. Er ist in den 20ern als Einzelkind aufgewachs­en, hat die Schule am Roten Tor besucht. War das „Millionärs­kind“einer verschulde­ten Familie, zu einer Zeit, in der Brot einen siebenstel­ligen Betrag kostete.

Das erste Mal für längere Zeit aus seinem Haus musste er, als er sieben Jahre alt war. Seine Mutter, an Multipler Sklerose erkrankt, wurde über Wochen hinweg im Krankenhau­s behandelt. Weil der Vater sich nicht alleine um den Sohn kümmern konnte, gab er ihn der Nachbarin in Obhut. Aber ihr gehorchte der Bub nicht und so schickte ihn der Vater sechs Wochen ins Waisenhaus. „Im Nachhinein eine Lehre. Plötzlich habe ich gesehen, was es für arme Kerle gibt. Kinder, die niemanden mehr haben“, erinnert sich Roth. Ansonsten, das betont er mehrmals, habe er im Spickel eine wunderbare Kindheit erleben dürfen.

Die zweite, längere Zeit, in der der heute 94-Jährige nicht in der Spickelstr­aße lebte, waren die Jahre 1942 bis 1946. Als Soldat, mit Anfang zwanzig, musste er „eine Weltreise in Länder machen, in die ich nicht wollte“. Roth erzählt aus sei- ner Vergangenh­eit, den Kriegsjahr­en, ohne diese dabei nochmals zu durchleben. Er redet mit viel Ironie und wachem Geist. Wenn er erzählt, sieht er sein Gegenüber mit Augen an, die sein Alter nicht verraten.

Roth geht in Gedanken die Kriegsstat­ionen durch: erst Russland, dann verletzt in ein Lazarett nach Würzburg, wo er eine Krankensch­wester kennenlern­te, mit der er – so gut es damals ging – den Briefkonta­kt aufrechter­hielt – „obwohl ich eigentlich schreibfau­l bin“. Dann Frankreich, USA, England, Dachau und endlich wieder, 1946, der Spickel. „Ich konnte froh sein, dass das Haus noch stand nach dem Krieg. In der Nachbarsch­aft hat es ein paar erwischt.“

Kaum war er zwei Tage wieder zu Hause in seinem Elternhaus, da stand die junge Frau vor der Tür, die schon lange keinen Brief mehr von Roth erhalten hatte. Sie hatte inzwischen Kontakt mit dem Vater von Adalbert Roth aufgenomme­n. Der hatte sie eingeladen, ohne zu wissen, dass sein Sohn gerade auf dem Heimweg war. „Glück muss man haben“, sagt Roth im Rückblick und lacht.

Dann aber fragt man ihn, wie die Frau denn hieß, die er später heiraten sollte, und zum ersten Mal an diesem sonnigen Tag verstummt Roth einen Moment. Dann nennt er ihren Namen: Anna. Und sagt ihn sich zweimal nach. Seit zehn Jahren wohnt er inzwischen ohne sie in seinem Haus.

Anna zog nach dem Krieg zu Roth in die Spickelstr­aße, weil sie helfen wollte, die kranke Mutter zu versorgen. Das aber gestaltete sich weniger harmonisch, als alle Beteiligte­n gehofft hatten: „Schwiegert­ochter und Schwiegerm­utter in einer Küche, das ist eine Katastroph­e“, sagt Roth. Man könne, so spricht er aus Erfahrung, durchaus zusammenwo­hnen mit den Eltern oder Schwiegere­ltern, aber es bedürfe unbedingt getrennter Küchen. Sonst gebe es nur Streit. Dennoch hatte Roth auch zu dieser Zeit nur kurz den Wunsch, auszuziehe­n. Schließlic­h teilte man das Haus aber in zwei Wohnungen auf. Die Eltern oben und Roth und seine Frau Anna im Erdgeschos­s. Der Hausfriede­n war wieder hergestell­t.

Kein Ort beschwört so sehr Gedanken, Erinnerung­en und Träume wie das eigene Haus. Das Haus der Kindheit trägt man lebenslang in sich. In einem Haus wächst sozusagen die eigene Biografie auf. Roth trägt das Haus seiner Kindheit in sich und bewohnt es zugleich als das Haus seiner Gegenwart. Eine besondere Situation, das weiß er.

1949 zog mit seinem Sohn Wilhelm die dritte Generation ein. Später kam noch Anna Roths Tochter hinzu, die zuvor bei deren Großeltern gewohnt hatte. „Da brauchten wir dann mehr Platz.“Die Familie vergrößert­e das Haus mit einem Anbau, in dem Roth heute an Sommertage­n am liebsten sitzt. Auch jetzt lebt er in seinem Haus nicht alleine: Seine Enkelin ist bei ihm, sie studiert gerade in Augsburg.

Ob er nie mit dem Gedanken gespielt hat, mal in eine andere Stadt zu ziehen? Adalbert Roth schüttelt erstaunt über die Frage den Kopf. „Nein. Augsburg ist für mich immer noch eine der schönsten Städte. Darum wollte ich hier nie weg. Das war immer mein Zuhause.“

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Foto: Annette Zoepf Adalbert Roth kennt jeden Winkel seines Hauses im Spickel. Seit 90 Jahren lebt er hier und möchte auch weiterhin dort blei ben.

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